Das Jerusalem-Syndrom

An Karfreitag werden in Jerusalem jedes Jahr aus völlig normalen Touristen falsche Jesusse, falsche Jungfrauen Maria, falsche Apostel oder auch mal ein falscher Gott. Es handelt sich dabei um eine Psychose (psychische Erkrankung). In der Literatur ist das Phänomen bekannt als das „Jerusalem-Syndrom“.   Auch am heutigen Karfreitag werden wieder Tausende der Via Dolorosa, dem Leidensweg Christi folgen. Der Weg führt in neun Stationen durch die Altstadt zur Grabeskirche. Viele fromme Christen wollen am eigenen Leib nachempfinden, wie es Jesus auf dem Weg zur Hinrichtung ergangen ist. Doch für einige ist das Erlebnis in der Heiligen Stadt so überwältigend, dass sie plötzlich den Boden der Realität unter den Füssen verlieren. Sie haben religiöse Visionen und Halluzinationen. Dies geht so weit, dass sie die eigene Persönlichkeit aufgeben und eine biblische Figur werden. Wer vom „Jerusalem-Syndrom“ heimgesucht wird, der muss in die Psychiatrie eingeliefert werden. Zum Glück reicht zum Abklingen der akuten Psychose meistens schon die Heimreise.

Persönlich war ich bisher viermal in Jerusalem und das Spektakel des „Jerusalem Syndroms“ an der Via Dolorosa faszinierte mich als Theater-Regisseur jedes Mal aufs Neue. Bei meinem letzten Besuch beobachtete ich einen Jesus aus Kalifornien. Er trug seine Haare schulterlang, auf dem Kopf sass eine Dornenkrone und sein nackter Oberkörper war mit künstlichem Blut (Ketchup?) bespritzt. Und dann diese Mimik! Mit einer Leidensmiene, die mir kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen liess, schleppte er das schwere Holzkreuz durch den „schmerzhaften Weg“, die Via Dolorosa.

Wer am „Jerusalem Syndrom“ erkrankt ist, der wird in die geschlossene Psychiatrie Kfar Shaul eingeliefert. Gregory Katz ist der Direktor der psychiatrischen Notaufnahme des Kfar-Shaul-Spitals. Er therapiert die akuten Fälle vorerst mit Beruhigungsmitteln. Einmal habe er drei Jungfrauen Maria gleichzeitig beherbergt. Und er sagt: „Wenn man es nicht selbst gesehen hat, glaubt man es kaum. Es ist ein sehr dramatischer Zustand.“ Einmal habe er einen Messias zum anderen ins Zimmer gelegt. Sie beschuldigten sich dann gegenseitig Betrüger zu sein…