Lesung mit Autor oder Schauspielerin?

Soll ein Buchautor für eine öffentliche Lesung eine Schauspielerin beiziehen? Oder sollen die Autoren ihre eigenen Texte lesen? Bei der Vernissage meines letzten Buches „Abheben – Wegfliegen“ habe ich beides gemacht. Die Schauspielerin Regula Imboden las meine persönlichen Texte (Bild), und die Ko-Autorinnen meines Buches lasen ihre Texte selber.

Bei meinen Ko-Autorinnen handelte es sich um Studentinnen, die ihre jungen Texte mit unvergleichlich jugendlicher Frische und Unbekümmertheit rüberbrachten. Die Texte widerspiegelten ihr jugendliches Temperament und ihre Gedanken während eines Fluges mit dem Hängegleiter. Manchmal stockte die Lesung, manchmal holperte sie und manchmal hatte sie etwas von diesem Schulmädchen-Charme, der besser in eine Schulstube als in ein Radio- und TV-Studio gepasst hätte. Aber die Texte gefielen, weil sie echt und authentisch vorgetragen wurden.

Die Schauspielerin Regula Imboden trug meine persönlichen Texte absolut perfekt und gekonnt vor. Da stimmte einfach alles. Die Aussprache, die Intonation, die Sprachmelodie. Sie hatte den nötigen Abstand und eine kritische Distanz zu diesen Texten aus meinem pädagogischen Tagebuch. Die Texte verströmten für mich eine wehmütige Erinnerung an vergangenen Zeiten, an Projekte, die mir ans Herz gewachsen waren und an dramatische Momente aus meiner Professoren-Karriere, die bei mir im Nachhinein immer noch starke Emotionen auslösten. Möglich, dass die Emotionalität dem Vortrag gut bekommen wäre. Möglich aber auch, dass die textimmanente Emotionalität einer professionellen Leseperformance abträglich gewesen wäre.

Solche und ähnliche Überlegungen sollten die Verantwortlichen bei jeder Autoren-Lesung anstellen. Doch ich denke, dass sich die Organisatoren in der Regel für den Autor als Lektor seiner eigenen Texte entscheiden. Sich treu bleiben, ist das beste Rezept. Trotzdem müssten die Organisatoren von Lesungen vielen Buchautorinnen und -autoren dringend empfehlen, die eigene Auftrittskompetenz zu verbessern.

Die Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, Peter Bichsel und Martin Suter waren und sind allesamt grossartige Schriftsteller. Gemeinsam ist ihnen aber, dass der mündliche Vortrag in keiner Art und Weise mit der hohen Qualität ihrer Bücher und Texte korrespondiert. Und wer häufig Autoren-Lesungen besucht, der weiss, dass viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller zwar sehr gut schreiben, aber leider nur sehr schlecht vorlesen können.

Ist es nun ratsam, sich für öffentliche Auftritte ein Bühnendeutsch anzutrainieren? Die erfolgreiche TV-Moderatorin Sabine Christiansen hat einmal gesagt: „Ich habe während meines Volontariats eine Sprechausbildung schnell wieder beendet, weil ich das Gefühl hatte, meine eigene Sprache werde verkünstelt.“ Recht hat sie. Öffentliche Auftritte verlieren vor allem an Glaubwürdigkeit, wenn man verkrampft versucht, den Kriterien deutscher Bühnensprache zu folgen. Was in Deutschland noch angehen mag, gerät in der Schweiz häufig zum Desaster. Bühnensprache schafft unnötige Distanz und ist häufig kein Sympathieträger.

Bühnendeutsch ist eine einheitliche Ausspracheregelung für die deutsche Schriftsprache im Theaterbetrieb des deutschen Sprachraums, die sich im 19. Jahrhundert etabliert hat. Gemäss Theodor Siebs soll die „Bühnensprache (…) eine edle und darum sehr rein gesprochene Sprache sein. Keinesfalls darf aber die Sorgfalt der Aussprache die Lebendigkeit des Aussdrucks stören.“ Bereits 1898 erschien das Standardwerk „Deutsche Bühnenaussprache“ des Breslauer Germanistik-Professors Theodor Siebs. Vieles davon gilt in Deutschland als „korrekt“, nicht jedoch in der Schweiz. Ein Beispiel dafür ist die Vorgabe, die Endsilbe <-ig> grundsätzlich wie -ich auszusprechen. Ein anderes Element des Bühnendeutsch ist das „rollende R“ (Zungenspitzen-R).

Für alle, die auch als Erwachsene immer noch wie Schulmädchen oder wie Schulbuben lesen, habe ich ein  Trostpflästerchen aus der Kommunikations-Theorie parat. Sprachlich perfekte Menschen ernten bei den Mitmenschen weniger Sympathie. Fehler und Schwächen sind menschlich, besonders auch sprachliche. Sich treu bleiben, ist das bessere Rezept.

Bei der Kommunikation hängt der Erfolg zu 93 Prozent davon ab, wie etwas gesagt wird. Die Zuhörer entscheiden zu 7% nach den Worten, die Sie sagen, zu 55% wie sich Ihr Körper zu den Informationen verhält und zu 38% wie Ihre Stimme die Fakten präsentiert.

Quelle: Theodor Siebs: Deutsche Bühnenaussprache (zuletzt als: Deutsche Aussprache. Reine und gemässigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch). Hrsg. von Helmut de Boor. Wiesbaden 2000.

Zum Bild:  Lesung mit Autor und Schauspielerin. Foto: Valérie Schnidrig