Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

Gestern in der Nacht verpasste Olympiasieger Eliud Kipchoge knapp das Ziel eines Marathons unter zwei Stunden. Nach 42,195 Kilometern zeigte die Uhr 2:00:25. Was da auf dem Formel-1-Circuit in Monza vor sich ging, war ein Laborversuch über die Grenzen der Menschheit. Der Exploit des Kenianers Kipchoge erinnert an eines der grössten Stücke kurzer Prosa, das die zeitgenössische Literatur hervorgebracht hat: Das Buch „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“. 1967 erschien die Erzählung zum ersten Mal auf deutsch und sie prägte viele Leserinnen und Leser. Alan Silitoe schrieb eine brillante Geschichte vom Triumph der Individualität über alle Anpassungszwänge.

Die Erzählung „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ des Engländers Alan Silitoe ist auch heute noch ein Kultbuch. Für den früheren deutschen Aussenminister Joschka Fischer veränderte „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ sein Leben. Fischer schrieb im Jahr 2000 das Buch „Mein langer Lauf zu mir selbst“. Radikale Gewichtsabnahme und tägliches Lauftraining veränderten sein Denken, seine Arbeit und sein Lebensgefühl.

Gestern in der Nacht interpretierte Olympiasieger Eliud Kipchoge  „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ auf eine ganz neue Art und Weise. Nach der Hälfte der Strecke mussten ihn seine beiden Laufkollegen ziehen lassen. Mit Lelisa Desisa war immerhin der zweifache Boston-Marathon-Sieger aus Äthiopien darunter, und noch bevor die erste Stunde um war, konnte auch Zersenay Tadese, der Weltrekordhalter im Halbmarathon, die hohe Pace nicht mehr halten.

Jetzt begann „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ namens Eliud Kipchoge. Den Blick hatte er immer wieder auf die Anzeigetafel geheftet, die auf einem Tesla vor ihm befestigt war. Für die zweite Streckenhälfte blieb nur noch eine Hoffnung, Eliud Kipchoge, der Olympiasieger, der in London nur acht Sekunden über dem Weltrekord von 2:02:56 geblieben war.

„Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“ Eliud Kipchoge war beeindruckend. Der Kenyaner lief wie ein Zenmeister, der Oberkörper blieb ganz ruhig, sein Schritt ökonomisch. Er strahlte eine meditative Ruhe aus. Seine Lippen umspielte ein Lächeln. 2:50 Minuten pro Kilometer waren vorgegeben. Die letzten 2,195 Kilometer lief er mit 2:53 pro Kilometer. Das war zwar schneller als die Pace beim Weltrekord, es reichte aber nicht, um die Mauer von zwei Stunden zu durchbrechen. Aber die Mauer wankte, am Schluss fehlten bloss 25 Sekunden.

„Ich lief wie in einem Tunnel“ sagte er am Ziel. Das Tempo war so regelmässig, wie man es noch nie gemessen hat in einem Marathon. Es schien, als könne ihm das knappe Scheitern nichts anhaben. „Ich war auch in diesem schweren Moment glücklich“, gab Eliud Kipchoge zu Protokoll.

Das ist „Die neue Einsamkeit des Langstreckenläufers“. Die brillante Erzählung von Alan Silitoe vom Triumph der Individualität über alle Anpassungszwänge aus dem Jahr 1967 braucht dringend ein Update.

Zum Bild: Die Läufer aus Ostafrika, der Wiege der Menschheit, sind Wunderläufer: Kenianer am Stadtlauf von Brig-Glis. Foto: Kurt Schnidrig.