Papiertiger

Das Luzerner Theater hat kurzfristig neun Aufführungen eines Stücks gestrichen. Nach rund sechswöchiger Probezeit wurde die Premiere am vergangenen Donnerstag abgesagt. Für Benedikt Peter, Intendant des Luzerner Theaters, ist die Qualität der Produktion unzureichend. Die Produktion hätte die besten Szenen der Theatergeschichte auf einer Bühne zu einem slapstickartigen  Abend vereinen sollen. Die Absage betrifft ein Team von Schauspielern und Opernsängern rund um Regisseur Dominique Müller. Das Drehbuch und die Produktion sind somit zu einem Papiertiger geworden.

Ein Papiertiger ist eine Produktion, die sich wichtig und einflussreich gibt, bei genauerem Hinsehen aber weder Bedeutung noch Wirkung hat oder sich sogar selbst handlungsunfähig macht. Geprägt hat den Begriff „Papiertiger“ der frühere Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas, Mao Zedong.

Absagen oder durchführen? Diesen schweren Entscheid musste mit Sicherheit jeder Regisseur irgendwann schon mal treffen. Mit jeder Produktion geht auch viel Herzblut und Engagement einher. Kulturprojekte sind zudem teuer und sie rentieren oft wirtschaftlich kaum. Umso tragischer ist es dann, wenn eine Produktion abgesagt werden muss.

Einige wenige sind der Meinung, dass der Abbruch einer problematischen Produktion die logische Konsequenz ist. Es gibt aber bestimmt auch nicht wenige Regisseure, die sich eine Herausforderung daraus machen, den Karren noch im letzten Moment aus dem Dreck zu ziehen, die Produktion also noch im letzten Moment zu retten. Dazu braucht es Erfahrung in Krisenkommunikation. Und es braucht auch Risikobereitschaft und viel Mut.

Es kann sein, dass unter dem riesigen Erfolgs- und Zeitdruck in kurzer Zeit eine verbesserte oder gar alternative Produktion entstehen kann, die allen Ansprüchen genügt. Meistens rückt ein Team in einer solchen Krisensituation enger zusammen. Alle fühlen sich gefordert, alle ziehen am gleichen Strick. Der unbedingte Wille, eine Produktion zu retten, kann neue Kreativität und Fantasie freisetzen.

Ich erinnere mich an ein Musiktheater, das ich vor Jahren mit über siebzig jungen Menschen auf eine grosse Bühne bringen wollte. Die Schauspieler und die Chorsängerinnen beherrschten ihren Part bestens, die Tänzerinnen hatten es aber verpasst, ihre Choreographien perfekt auf die Songs abzustimmen. Mir oblag die Gesamtleitung des Theaters, und möglicherweise war es zwischen mir und der südamerikanischen Tanzlehrerin zu sprachlich bedingten Missverständnissen gekommen. Ein Abbruch der Produktion wurde diskutiert.

In der Nacht vor der Premiere liess ich deshalb die Tänzerinnen ins Theater einrücken. Ich hatte mir zu den einzelnen Songs Choreographien überlegt, die ich nun mit ihnen besprach und die sie bis zum Morgengrauen unter grossem Zeitdruck umsetzten. Die Premiere ging unter grossem Applaus des Publikums über die Bühne. Nach der Premiere lagen wir uns alle in den Armen.

Papiertiger gilt es zu vermeiden. Persönlich würde ich alles versuchen, um eine problematische Produktion im letzten Augenblick noch zu retten. Es ist erstaunlich, wie erfinderisch, wie kreativ und wie fantasievoll Akteurinnen und Akteure werden, wenn die Zeit drängt und wenn es darum geht, das Publikum nicht zu enttäuschen.  Zudem fühlen sich die Mitwirkenden eines Ensembles, das eine Stresssituation erfolgreich bewältigt hat, ein Leben lang miteinander verbunden. Dies gilt genau so für alle Akteurinnen und Akteure im täglichen Leben.

Zum Bild: Papiertiger. Foto: Kurt Schnidrig.