Die kürzeste Nacht

Der längste Tag geht zu Ende, die kürzeste Nacht bricht an. Es ist heute der 21. Juni, wir haben schon 22 Uhr. Immer noch ist der Himmel über der Simplonstrasse N9 ganz in Sommerblau getaucht, und durch die Wolken schimmert noch die Sonne hindurch. Es ist heute Sommersonnenwende und Mittsommernacht. Wir sitzen draussen im Garten und erzählen uns Geschichten.

Schon seit jeher haben die Menschen diesem Tag eine besondere Bedeutung zugemessen. Die Erbauer von Stonehenge richteten ihr Bauwerk nach dem Verlauf der Sonne aus. Die Sonne bleibt an diesem speziellen Tag in manchen Regionen sogar die ganze Nacht über dem Horizont stehen. Im Norden Europas werden in dieser sommerlichen Jahreszeit die Nächte gar nicht mehr dunkel, man spricht auch von den Weissen Nächten. Deshalb haben Sonnenwendfeiern in Ländern wie Schweden mehr Bedeutung als in Südeuropa. In Schweden wird deshalb am 21. Juni das Mittsommerfest gefeiert.

Zur Zeit des Mittsommerfestes spielt der wohl beste und bekannteste Krimi von Henning Mankell. Sein Kommissar Wallander ist legendär und inzwischen auch verfilmt worden. Der Krimi „Mittsommermord“ gilt als einer der besten überhaupt.

Die Story ist überaus spannend konstruiert: Drei junge Menschen aus der schwedischen Kleinstadt Ystad begehen das Mittsommerfest am 21. Juni. Sie kleiden sich in Gewänder des 18. Jahrhunderts und nehmen in einem abgelegenen Waldstück ein Picknick ein. Plötzlich taucht ein Mann auf, der die drei jungen Menschen erschiesst, und zwar genau dann, als sie glücklich sind und es zusammen lustig haben. Der Mörder versteht es, seine Tat geschickt zu verschleiern. Er sendet gefälschte Postkarten an die Angehörigen, um sie glauben zu lassen, die drei jungen Leute hätten sich auf eine Europa-Reise begeben.

Erst spät beginnt sich die Mutter einer Ermordeten zu sorgen. Sie alarmiert Kommissar Kurt Wallander. Als er die Ermittlungen zu diesem Fall einleitet, wird plötzlich sein Polizeikollege Svedberg mit einer Schrotflinte erschossen. Bald stellt sich heraus, dass es zwischen diesem Fall und dem Verschwinden der drei jungen Leute eine Verbindung gibt: In Svedbergs Wohnung findet Wallander ein Foto von ihnen. Der ermordete Polizist wusste also vor seinen Kollegen von dem Verbrechen; der Mörder hat dies erfahren und konsequent seinen Verfolger ausgeschaltet.

Wallander muss die Kraft und allen Mut zusammennehmen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Führte sein Kollege, der Polizist Svedberg, ein Doppelleben? Warum haben sich die drei Jugendlichen verkleidet? Wieso hatte es der Täter auf junge, glückliche Menschen abgesehen?

Wie immer legt Mankell keinen einfachen Kriminalroman vor, sondern verknüpft seine Geschichte von der Jagd auf einen bizarren Serienmörder mit einem Blick auf den Zustand der modernen Gesellschaft, deren Zukunft wenig vielversprechend erscheint.

Das ist der beste Krimi, den ich je gelesen habe. Im letzten Drittel des Romans steigt die Spannung ins Unerträgliche und wird bei den Leserinnen und Lesern wohl für dunkle Augenringe sorgen. Denn so viel sei versprochen: Sie können diesen Krimi auch tief nachts nicht mehr aus der Hand legen. Vor allem in diesen Mittsommernächten nicht.

Zum Bild: Mittsommernacht im Simplongebiet. Foto: Kurt Schnidrig.