Der Shootingstar

Am Literaturfestival in Leukerbad habe ich ihn endlich getroffen, den Shootingstar der Schweizer Literaturszene: Lukas Bärfuss. Schon fast märchenhaft mutet sein Aufstieg an. In Thun verliess er nach neun Jahren die Primarschule. Er verdiente sich sein Geld als Tabakbauer, als Eisenleger und als Gärtner. Dann verschlug es ihn in eine Buchhandlung, wo er sich mit der Schriftstellerei befassen konnte. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller, Lehrbeauftragter am Literaturinstitut in Biel und Dramaturg am Schauspielhaus Zürich. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in 20 Sprachen übersetzt. Viele Preise durfte er für sein literarisches Schaffen bereits entgegennehmen, darunter 2014 auch den Schweizer Literaturpreis.

In einer schattigen Gartenbeiz in Leukerbad trafen wir uns. Lukas Bärfuss gehört zu jener seltenen Art von Schriftstellern, die nicht nur exzellent schreiben, sondern auch sprechen, vortragen und referieren können. Ja er ist ein Shootingstar, aber einer, der auf Umwegen und Abschweifungen seine Ziele erreicht. Er finde es wichtig, Kunst und Literatur auch in die Region zu bringen, deshalb sei er nun schon bereits zum vierten Mal in Leukerbad mit dabei.

„Das Interessante passiert immer dann, wenn man die falsche Abzweigung nimmt“, verrät mir Lukas Bärfuss. Es sei wie auf einer Autobahn. Sobald man eine Ausfahrt nehme, erwarte uns das Unerwartete. So geht es auch in „Hagard“ zu, seinem neusten Roman. Die Hauptfigur nimmt eine Abzweigung in ihrem Leben, und „es kommt nicht nur gut heraus“, fasst Bärfuss zusammen.

Konformismus, Gleichmacherei und das ewige Konkurrenzdenken, das seien wichtige Komponenten in seinem literarischen Schaffen. Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken könne unser Leben zwar beleben, wenn dieses Denken jedoch zum einzigen Modus werde, zur einzigen Richtschnur, dann würde das die Menschen erschöpfen, viele kämen heute gar nicht mehr zur Ruhe. Die Konkurrenz trage auch dazu bei, dass sich die Leute aneinander anpassen. Die Art und Weise, wie die Menschen heute ihre Ziele erreichen wollen, sei immer die gleiche. Das führe zur Anpasserei. Wichtiger wären jedoch die Unterschiede und Besonderheiten unter den Menschen.

Neben den Inhalten ist für Lukas Bärfuss auch das Wie des Schreibens von entscheidender Bedeutung. In seinen Werken dominiert die sogenannte „erlebte Rede“, die wir bereits von anderen Grossen der deutschsprachigen Literaturgeschichte kennen, von Virginia Woolf zum Beispiel. Lukas Bärfuss erklärt: „Die erlebte Rede“ ist so eine innere, leise Stimme, welche durch den Autor verdeutlicht und versprachlicht wird. Der Autor verschwindet hinter dieser inneren Stimme. Die Frage stelle sich, ob es diese innere autonome Stimme in unserer Gesellschaft überhaupt noch gebe, sinniert er.

Die heutige Gesellschaft ist den Geschichten aller Art hilflos ausgeliefert. Kann oder muss der Schriftsteller seinen Leserinnen und Lesern diesbezüglich behilflich sein? frage ich Lukas Bärfuss. Der Schriftsteller müsse aufzeigen, wie wir verführbar seien, mit welchen dramaturgischen Mitteln wir verführbar seien, gibt sich Bärfuss überzeugt. Es gebe verschiedene Techniken und Methoden, auf die Leserinnen und Leser immer wieder ansprechen. Weiss ein Schriftsteller, welche Techniken „verfangen“, dann kann er seine Leserschaft verführen, führt Bärfuss weiter aus. Wer allerdings diese Manipulationen und Verführungskünste kenne, der könne sich auch dagegen wehren, ist Bärfuss überzeugt.

Lukas Bärfuss versteht sein Schreiben auch als eingebettet in eine globale Kultur, in ein Universum. Dies allerdings beinhaltet die Gefahr, zuweilen etwas klischeehaft zu wirken, werfe ich ihm vor. Bärfuss gibt mir recht. Das Gegenmittel gegen die Gefahr, in Klischees zu verfallen, sei allerdings, möglichst genau eine bestimmte Situation zu beschreiben. Man dürfe sich nicht im Allgemeinen verlieren. Er halte es mit dem Papst, der zu Ostern dieses „urbi et orbi“ in die Welt hinaus schicke. Jeder von uns lebe zwar in einem persönlichen Umfeld, gleichzeitig würden wir aber beeinflusst von allem, was passiert. Dazu beitragen würde eine globalisierte Kultur, Wirtschaft, Welt. Leider hätten wir noch nicht eine globalisierte Politik, das jedoch sei eine Aufgabe für die nächsten Generationen.

Wo aber sind die Grenzen für den modernen Schriftsteller? Kann und darf der Schriftsteller alles tun oder lassen? Bei dieser meiner Frage kommt Bärfuss ins Studieren. Das sei eine gute Frage, er glaube aber, dass auch ein Schriftsteller nicht alles machen dürfe. Auch er selber schreibe nicht immer die Bücher, die er gerne schreiben möchte. Er schreibe immer die Bücher, die er schreiben könne. So stosse er immer an seine Grenzen, an die Grenzen seiner Fähigkeiten, seines Denkens. Auch durch unsere Lebenszeit und durch unsere menschliche Beschränktheit seien uns Grenzen gesetzt.

Was denn die kommenden Projekte seien, möchte ich zum Schluss von Lukas Bärfuss wissen. Er möchte endlich ein Stück fertig schreiben, an dem er seit sieben Jahren arbeite, verrät er mir. Auch ein neues Buch und ein neuer Essayband seien in Arbeit. Er versuche immer, so ein kreatives „Reizklima“ für seine Arbeit am Leben zu erhalten, resümiert der Schriftsteller.

Nach der Begegnung mit Lukas Bärfuss fahre ich in Gedanken versunken von Leukerbad hinunter zurück ins Tal. Da hat sich einer hoch gearbeitet zum literarischen Überflieger, geht mir durch den Kopf. Die Medien hofieren einen wie Lukas Bärfuss. Allerdings wächst jetzt auch der Druck, der Buchhandel lebt von Überfliegern wie Lukas Bärfuss einer ist. Ob er diesem Druck standhalten kann?

Das Leben eines Shootingstars beinhaltet immer zwei Möglichkeiten. Entweder er schreibt bleibende Literaturgeschichte, oder er taucht irgendwann mal ausgebrannt unter und wird von den Medien, die ihn zurzeit noch artig hofieren, fallen gelassen. Der harte Weg nach oben, den Bärfuss genommen hat, könnte ihn jedoch befähigen, einer der ganz grossen Literaten zu werden.

Zum Bild: Lukas Barfuss im Gespräch mit rro-Literaturexperte Kurt Schnidrig. Foto: rro.