Berge sterben aufrecht

Im Jahr 2012 geisterten Schreckensmeldungen durch die Weltpresse: „Das mächtige Matterhorn zerfällt in Stücke“, prophezeite die englische Daily Mail. Oder: „Das Matterhorn bröckelt auseinander“, titelte die deutsch Bild-Zeitung. Auslöser für die Schlagzeilen waren Forschungsergebnisse, welche die Universität Zürich veröffentlichte: Das Matterhorn leide unter dem Klimawandel. Aber es werde stehen bleiben. Die Folgen des Klimawandels seien nicht akut bedrohlich. Der Berg sei zwar angeschlagen, werde aber weder zerfallen noch auseinander bröckeln, geben sich Forscher und Einheimische heute überzeugt.

Kurt Lauber, der Hüttenwart der Hörnlihütte, berichtet in seinem Buch „Der Wächter des Matterhorns“ von einem furchtbaren Felssturz, der sich im Jahr 2003 zugetragen hat. In diesem Jahr brach im oberen Teil des zweiten Couloirs ein Gesteinsbrocken ab, der eine 50 Meter breite Abbruchstelle hinterliess. Der Hörnligrat musste daraufhin eine Zeitlang gesperrt werden, was zum Aufschrei in den Medien führte.

Die Forscher der Universität Zürich mit Stephan Gruber an der Spitze liessen über Jahre hinweg die Felsbewegungen am Matterhorn überwachen. Die Beobachtungen ergaben, dass aufgrund der Klimaerwärmung das Gestein des Berges erhitzt wurde. Die Hitze bewirkte, dass sich der Fels ausdehnt und Risse bekommt. Die Risse können Felsabbrüche nach sich ziehen. Kommt dazu, dass auf den Bergen nun mehr Wasser in Bewegung ist, das von schmelzenden Gletschern herstammt.

Die Temperaturen sind während der letzten Jahrzehnte ständig angestiegen. Die Folgen der Klimaerwärmung bringen auch mit sich, dass es in mehr als 50 Meter Tiefe heute viel wärmer ist als noch vor ein paar Jahren. Die Folgen machen betroffen: Fels, Eis und Wasser ergeben eine unstabile Mischung, der lose Berg wird nicht mehr kompakt zusammengehalten. Als Konsequenz davon bilden sich Murgänge, Felsstürze und Steinschläge.

Damals, beim dramatischen Felssturz im Jahr 2003, hätten 70 Bergsteiger auf Anweisung von Kurt Lauber mit dem Helikopter aus dem Berg geflogen werden müssen, weil der Abstieg über die Abbruchstelle lebensgefährlich war, beschreibt der Autor in seinem Buch „Der Wächter des Matterhorns“. Damals wurde auch ein weiterer wichtiger Faktor für den Felssturz verantwortlich gemacht: Weil die Erderwärmung die Gletscher zum Schmelzen bringe, sei auf dem Berg immer mehr Wasser in Bewegung. Wenn dieses Wasser nicht abfliessen könne, lagere es sich ab, gefriere und sprenge dann den Fels, berichteten die Forscher der Universität in ihrer Studie im April 2012.

Ist nun die Angst, dass das Matterhorn in Stücke fällt, gebannt? Weshalb haben wir in den letzten fünf Jahren kaum mehr von diesen Befürchtungen gehört? Nach dem Felsabbruch, von dem Kurt Lauber in seinem Buch berichtet, installierten die Forscher der Universität Zürich ein Netzwerk von drahtlosen Sensoren am Hörnligrat. Mit Hilfe dieser Sensoren lassen sich die Felsbewegungen präzise kontrollieren. Um Naturgefahren wie Felsstürzen und Murgängen vorzubeugen, werden die gefährdeten Stellen am Berg mit Radarsatelliten ständig fotografiert. Ein Vergleich der Bilder ermöglicht eine Prognose bezüglich der Stabilität der Berghänge.

Nicht nur das Matterhorn ist bedroht, auch die Eigernordwand, die Dent Blanche, der Mönch oder der Piz Bernina. Zwar „sterben“ diese Berge von  innen her, sie sterben jedoch aufrecht: Die Forscher geben sich überzeugt, dass die Berge in ihrer ganzen Grösse und Höhe stehen bleiben werden.

Literatur: Kurt Lauber: Der Wächter des Matterhorns. Verlag Droemer. 288 Seiten.

Zum Bild: Das majestätische Matterhorn ist angeschlagen von den heissen Sommern, es wird uns aber in voller Grösse erhalten bleiben. Foto: Kurt Schnidrig.