Leben und Tod in Nahost

Seit die UNO im Jahr 1947 beschloss, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat aufzuteilen, ist der israelisch-palästinensische Konflikt allgegenwärtig. Die Berichterstattung in den Medien beschränkt sich auf grosse Worte der Mächtigen, auf Konferenzen und Terroranschläge. Wie aber lebt die Bevölkerung unter einem Besatzungsregime? In den letzten zwanzig Jahren war ich dreimal in Israel und in den palästinensischen Gebieten. Erstmals 1995, als Ministerpräsident Rabin an einer Friedensdemo von einem jüdischen Extremisten erschossen wurde, dann als Korrespondent für eine Zeitung, als Netanjahu zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Ein drittes Mal organisierte ich als Präsident des Laufsportverbands einen Friedenslauf von Bethlehem über Jerusalem bis nach Tel Aviv. Aus meiner Sicht gibt es Defizite und Versagen auf beiden Seiten.

Auf all diesen Reisen durch Israel und durch die Westbank hatte ich unvergessliche persönliche Kontakte mit Palästinensern und mit Juden. Eindrücklich war aber auch die wunderbare Gastfreundschaft der Beduinen in der judäischen Wüste, die uns in ihren Zelten bewirteten und uns einen Einblick in ihren Alltag ermöglichten (Bild). Meine Eindrücke und Schilderungen verpackte ich in Artikel und Berichte für verschiedene Zeitungen.

Ein ähnliches Vorgehen hat der amerikanische Autor Ben Ehrenreich gewählt, dessen Buch soeben erschienen ist unter dem Titel „Leben und Tod in Palästina“. Er hat sich von 2011 bis 2014 immer wieder im Westjordanland aufgehalten.  Sein erklärtes Ziel dabei war, das „Ungleichgewicht der Berichte“ zu korrigieren. Seine journalistische Methode bestand darin, den Menschen zuzuhören, zu beobachten und niederzuschreiben, worüber die Medien kaum berichten.

Man kann es drehen und wenden wie man will. Die israelische Sichtweise erhält in den Medien viel mehr Gewicht und Präsenz als die palästinensische. Das hat wohl vor allem mit den Machtverhältnissen zu tun, die einseitig auf israelischer Seite auszumachen sind. Aus offizieller israelischer Sicht rechtfertigt das Verhindern palästinensischer Gewaltakte alles. Wie das Leben der Palästinenser in den besetzten Gebieten aussieht, wie sich der Alltag in ständiger Angst und Bedrohung bewältigen lässt, geht leider allzu häufig in der Berichterstattung unter.

Es sind erschreckende Zustände, die vor der Weltöffentlichkeit verschwiegen werden. Autor Ben Ehrenreich berichtet, dass 40 Prozent aller Männer in der Westbank schon einmal im Gefängnis sassen. Selbst kleine Kinder, die Steine werfen, werden erschossen. Für ein kleines Kind, das einen Stein geworfen habe, verlange ein israelischer Staatsanwalt fünfzehn Jahre Haft, schreibt Ehrenreich. Nächtliche Hausdurchsuchungen, Deportationen, Zerstörung von Häusern, Folter und Checkpoints, all das behindere jede wirtschaftliche Entwicklung.

Heute sind bereits 60 Prozent der Westbank im Besitz von jüdischen Siedlern und der Armee. In seinem Buch beschreibt Ben Ehrenreich, wie so Tausenden von Bauern und Beduinen die Lebensgrundlage entzogen wird. Das Wasser ist eines der grossen ungelösten Probleme. In vielen Dörfern fliesst das Wasser nur ein paar Stunden in der Woche.

In einer Zeit, in der dem Friedensprozess im Nahen Osten kaum noch Chancen eingeräumt werden, stellt sich die Frage, wie Menschen das alles so lange ertragen können. Ben Ehrenreich findet in seinem Buch auch keine Antwort auf diese Frage.

Literatur: Ben Ehrenreich: Der Weg zur Quelle. Leben und Tod in Palästina. Hanser Verlag, Berlin 2017. 480 Seiten.

Text und Foto: Kurt Schnidrig