Die eigene Meinung

Wo viele Menschen zusammen kommen, wird es schwierig, eine eigene Meinung zu vertreten. Gerne übernehmen wir, was andere denken. Unsere Meinung ist vom Urteil anderer abhängig. Wir alle sind sehr leicht manipulierbar. Zu diesem Schluss kommen die Forscher im Bereich der Neurowissenschaften, vertreten zum Beispiel durch die Autorin Tali Sharot vom University College London. Was sie herausgefunden hat, ist faszinierend und niederschmetternd zugleich: Sobald wir in einer grossen Gruppe von Menschen sind, tickt unser Denkapparat nicht mehr gleich wie sonst. Unser selbständiges Denken geht auf in der Masse.

Oftmals sind wir uns gar nicht bewusst, dass wir wieder mal gehörig von anderen beeinflusst worden sind. Leicht werden heute Meinungen, Emotionen und Urteile bei Menschenansammlungen und in sozialen Netzwerken übertragen. Was heute jeder Werbefachmann weiss: Eine erste positive Produktbewertung im Netz beeinflusst alle späteren Bewertungen. Die positive Erstbewertung beeinflusst das spätere Gesamt-Rating um ungefähr 25 Prozent. Eine gewinnbringende Werbestrategie besteht deshalb darin, eine bekannte und beliebte Persönlichkeit für eine positive Erstbewertung gewinnen zu können.

Auch der eigenen Meinung ist nicht immer zu trauen. Häufig unterliegen wir dem Bestätigungsfehler. Wir alle haben auf verschiedensten Gebieten bereits Erfahrungen gesammelt, und wir glauben zu wissen, was funktioniert und was nicht. Jede und jeder von uns verfügt über fixe vorgefasste Meinungen, die wir immer wieder gerne bestätigt haben möchten. Bei Themen wie Klimawandel oder Abtreibung haben wir uns alle bereits eine abgeschlossene Meinung gebildet. Neue Argumente dafür oder dagegen sind wir nicht mehr gewillt, anzunehmen. Wir wollen bei vielen Themen nur noch bestätigt haben, was wir eh schon zu wissen glauben. Dieser Bestätigungsfehler hindert jedoch viele an einem in die Zukunft gerichteten Denken.

Wenn es um die eigene Meinung geht, haben sich viele von uns zu richtigen „Kontroll-Freaks“ entwickelt. Es ist wie in der IKEA: Wir vertrauen mehr auf ein Produkt, das wir selber zusammengebaut haben. Selbstverständlich sind wir dann auch bereit, mehr für ein Produkt zu bezahlen, das wir selber zusammengebaut oder zumindest ausgelesen haben. Einer meiner Sportsfreunde baut sich sein Rennvelo selber aus Einzelteilen zusammen, die er fabrikneu ausgewählt hat. So verfügt er über die Kontrolle und über das Vertrauen, das es ihm ermöglicht, locker jede noch so schnelle Abfahrt unter die Räder zu nehmen.

Besonders die „Kopfarbeiter“ unter uns verfügen über viele Muster und Entwürfe, die sie in ihre Meinungsbildung hinein interpretieren. Was wir aus Sachliteratur und Belletristik herauskristallisiert haben, versuchen wir in Alltagssituationen verfügbar zu machen. Dabei kann das Hinein-Interpretieren so weit gehen, dass dabei veritable Fantasieprodukte entstehen, die extreme Formen annehmen können. Ein klassisches Beispiel aus der Literaturwissenschaft mag diesen Sachverhalt illustrieren: Als Goethe seinen Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ veröffentlichte, übernahmen viele Leserinnen und Leser die Attitüden und Ideen des Protagonisten Werther. Sie kleideten sich wie Werther, sie schrieben wie Werther, und sie gingen in den Freitod wie Werther.

Zu keiner Zeit war es leicht, sich eine eigene Meinung zu bilden. Es ist wichtig, in jedem Diskurs und bei jeder Auseinandersetzung auch gegenteilige Auffassungen zu würdigen. Das Durchboxen einer einzigen Meinung endet selten im Guten. Hingegen ist es angezeigt, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, um verhärtete Fronten aufzubrechen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur: Tali Sharot: Die Meinung der anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen. Siedler Verlag, München 2017. 304 Seiten.