Die Trauer der Hirschkuh

Die Jäger haben reiche Beute gemacht. Die meisten konnten bereits in den ersten Tagen nach der Eröffnung der Hochjagd das erlegte Wild schultern. Denn was ein erfahrener Jäger ist, der spekuliert das Wild schon im Spätsommer aus. Nun also ist abgeknallt, was auf den Teller soll. Hirschfilet zusammen mit Rotkraut und Knöpfli. Die kulinarischen Wildwochen stehen an. Wie aber geht es den Überlebenden? Den Hirschkühen, die sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten? Sie trauern. Die Trauer der Hirsche ist wissenschaftlich gesichert. Die Gefühlswelt der Hirsche ist viel reicher, als wir je gedacht hätten.

Wenn eine Hirschkuh ihr Kalb verliert, dann herrscht zuerst bei ihr ungläubige Verwirrung. Dann setzt Trauer ein. Trauer? Können Hirsche so etwas überhaupt empfinden? Ja, schreibt der studierte Forstwirt Peter Wohlleben in seinem Buch, in dem er das Seelenleben der Tiere beschreibt. Hirsche müssen sogar trauern, denn die Trauer hilft ihnen, Abschied zu nehmen. Wissenschaftliche Beobachtungen haben ergeben, dass die Bindung der Hirschkuh zum Kalb so intensiv ist, dass sie nicht von einer Sekunde zur anderen aufgelöst werden kann. Die Hirschkuh müsse erst langsam verstehen lernen, dass ihr Kind nun tot sei, und dass sie sich nun von dem kleinen Leichnam lösen müsse, berichtet der Autor. Und er weiss: Immer wieder kehrt die Hirschkuh zum Ort des Geschehens zurück und ruft nach ihm, selbst wenn die Jäger das Kalb schon längst abtransportiert haben.

Doch das Leben muss auch im Hirschrudel irgendwie weiter gehen. Allerdings gefährden trauernde Hirschkühe ihre Sippe, denn sie bleiben in der Nähe, wo ihr Kind zu Tode kam, und damit bleiben sie auch in der Nähe der Gefahr. Problematisch wird das Zusammenleben mit einer trauernden Hirschkuh, die gleichzeitig die Anführerin des Rudels war, also das erfahrene „Alttier“. Eigentlich müsste sie das Rudel wegführen aus der Gefahrenzone. Doch leider ist sie dazu nicht mehr imstande, denn die noch nicht endgültig gelöste Beziehung zum Nachwuchs verhindert dies.

Im Hirschrudel muss eine solche Hirschkuh ihre Führungsrolle abgeben. Dies geschieht im Hirschrudel ohne Rangkämpfe. Es steigt nun eine andere erfahrene Hirschkuh zur Anführerin auf, sie übernimmt die Leitung des Hirschrudels. Das Leben muss weiter gehen. Bis zur nächsten Hochjagd.

Manchmal ist ein Einblick in eine verborgene Welt heilsam. Förster Peter Wohlleben gewährt uns erstaunliche Einblicke in das Seelenleben der Tiere. Liebe, Trauer, Mitgefühl – die Gefühlswelt der Tiere ist viel reicher als bisher gedacht. Er schöpft aus jahrzehntelanger Erfahrung als Förster und kann sich dabei auch auf neueste wissenschaftliche Erkenntnisse stützen.

Manchmal lege ich ein Buch mit gemischten Gefühlen zur Seite. Ich habe mich heute grad so sehr auf das Hirschfilet mit Rotkraut und Knöpfli gefreut. Nicht heute. Vielleicht ein anderes Mal.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur: Peter Wohlleben: Das Seelenleben der Tiere. Ludwig Verlag, München. 239 Seiten.