Auf der Couch des Vergessens

Dürfen wir vergessen? Dürfen wir eine schreckliche Vergangenheit im Nebel des Vergessens zurücklassen? Ja. Das Vergessen hilft uns zu leben und zu überleben. Der britische Schriftsteller Kazuo Ishiguro hat für diese These die grösste Auszeichnung erhalten, welche die Literatur zu vergeben hat: Den Nobelpreis für Literatur. Dass er dabei dem Vater der Psychoanalyse, dem grossen Sigmund Freud, in die Quere kommt, stört heute nur noch wenige. Auf der Couch hatte Sigmund Freud fast ein halbes Jahrhundert lang seine Behandlungsmethode entwickelt. Sie war das einzige therapeutische Werkzeug, dessen sich der Seelenarzt jemals bediente. Sein Zweck: Das Heraufholen und Verarbeiten all dessen, was wir vergessen und verdrängt haben.

Die berühmte Couch des Seelenarztes Sigmund Freud befindet sich heute in London. Aus Wien wurde Sigmund Freud und seine Familie 1938 dorthin vertrieben. Im Gartenzimmer in 20 Maresfield Gardens befindet sich die weltberühmte Couch. Die meisten Besucher, welche die Pilgerstätte der Psychoanalyse mit der berühmten Couch in London aufsuchen, wollen sich auf einem Erinnerungsfoto verewigen – in liegender Position. Sie ist 186 Zentimeter lang und 83 Zentimeter breit. Diese Couch ist eine Ikone. Sie wurde zum Symbol der Psychoanalyse. Zahlreiche Karikaturisten haben die berühmte Couch ins Visier genommen. Mal liegt eine unbekleidete Dame auf ihr, mal der bärtige Seelenarzt selber, mal ein Tonband oder ein paar Bücher.

Ist es ein Zufall, dass auch der Nobelpreis für Literatur nach London geht? Und zwar an einen, der das Vergessen für lebens- und überlebenswichtig hält? An einen, den Sigmund Freud wohl unverzüglich gebeten hätte, auf der berühmten Couch Platz zu nehmen? An Kazuo Ishiguro, der mit Geschichten wie „Der begrabene Riese“ die These verbreitet, dass der Nebel der Vergessens und Verdrängens überlebenswichtig sei? Dass es besser sei, den Nebel des Vergessens gar nicht zu lichten? Dass es besser sei, unsere vor Blut triefende Geschichte ruhen zu lassen? In Ishiguros Roman liegt ein Nebel über der Welt. Es ist ein Nebel, der ins Gedächtnis kriecht, bis die Erinnerungen in Wolkenbänken untertauchen. Nur noch kleine Bruchstücke unserer Erinnerung ragen daraus hervor. Ishiguros Figuren sind ohne Ursprung. Sie haben keine Geschichte. Ihnen fehlt dieses Fundament des Mensch-Seins. Eine wichtige Message in Ishiguros Erzählungen ist die Warnung, Vergangenheits-Mythen und Wahrheit nicht zu verwechseln.

Lässt sich zu Sigmund Freuds These und Kazuo Ishiguros Antithese eine Synthese finden? Ich denke schon. In Sigmund Freuds grossem Werk über die Traumdeutung lese ich über das Vergessen das Folgende: Es spricht alles dafür, dass unsere Erinnerung den Traum nicht nur lückenhaft, sondern auch ungetreu und verfälscht wiedergibt. Durch das Vergessen schaffen wir Lücken, die wir mit willkürlich gewähltem, neuem Material ausfüllen, den Traum ausschmücken, abrunden, zurichten.

Wenn wir – nach Freud – durch Vergessen unsere Erinnerungen und unsere Träume ausschmücken, abrunden und zurichten, lässt sich daraus auch das menschliche Bedürfnis ableiten, die Vergangenheit zu beschönigen. Wir müssen die blutige und schreckliche Vergangenheit,  die Kreuzzüge, Kriege und Genozide im Nebel der Vergessens zurücklassen. Wir müssen vergessen, um überleben zu können.

Ist hier die Synthese zwischen Sigmund Freuds Lehre und Kazuo Ishiguros literarischer Botschaft zu sehen? Wir müssen vergessen können um zu (über-)leben. Alles aufarbeiten zu wollen, was uns die Weltgeschichte aufgebürdet hat, kommt einer Sysiphus-Arbeit gleich. Ohne die Gnade des Vergessens, versinken wir in Depression und Resignation.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig