Die Botin aus der Fremde

„Ich bin ein Berliner“ – ist ein berühmtes Zitat aus der Rede John F. Kennedys aus dem Jahr 1963 in West-Berlin. Das Zitat wurde seither vielfach weiter verwendet, immer aber im äusserst positiven Sinn. Das Zitat kam mir in den Sinn, als ich kürzlich die Vernissage von Christine Pfammatter besuchte. Der Rotten Verlag hatte zur Vernissage ihres neuen Buches „Permanent Tourist“ geladen. Das Buch aus der neuen Reihe rottenedition trägt den Untertitel „Nomadin zwischen Berlin und Leuk“. Christine Pfammatter, in Leuk geboren, lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin.

„Ich bin eine Berlinerin“ könnte demnach Christine Pfammatter ausrufen, auch wenn sie im Herzen wohl immer Leukerin geblieben ist. Im Sternzeichen des Stiers geboren, sei sie „geerdet“,  liess sie an der Vernissage verlauten. Dies belegen auch ihre Kindheitserinnerungen und Erzählungen aus dem Wallis. Als Einwohnerin Berlins verfügt sie allerdings über eine Aussenperspektive und sieht die Verhältnisse bei uns im Wallis eher als eine „Botin aus der Fremde“. Der Wohnsitz in Berlin ermöglicht es ihr, mit der nötigen Distanz den Schönheiten, aber auch den Widersprüchen unserer Zeit nachzugehen. Ihr Buch erlaubt so einen ganz besonderen Blick von aussen auf das Wallis und auf seine Bewohner.

Christine Pfammatters Buch enthält 34 kurze Geschichten. Als Müsterchen servierte die Autorin in der Festung hoch über Naters eine Geschichte über „Kunst im Kerker oder wie es ist, Tourist im eigenen Land zu sein“. Weil sie ja nicht mehr im Wallis lebe, sei sie immer zu Besuch oder auf Durchreise, weshalb sie Orte und Kunstwerke oft genug mit den Augen einer Touristin gesehen habe. In Sitten habe sie die letzte Triennale für zeitgenössische Kunst besucht. Dieser Besuch habe sie ins alte Gefängnis von Sitten geführt. Wie alle freiheitsliebenden Menschen habe auch sie eine gewisse Sympathie für Ausbrecher, gesteht die Autorin. So wie der Schriftsteller Ramuz, der dem Falschmünzer Farinet in seinem Roman ein Denkmal gesetzt hatte.

Die Autorin bemängelt in dieser Geschichte, dass beispielsweise die Neue Zürcher Zeitung für derartige Sympathien kein Verständnis habe. Bei der NZZ werfe man den Hanfbauer Rappaz, Farinet und Walter Stürm in einen Topf und erfinde dazu den reisserischen Titel „Outlaws in Walliser Gefängnissen“. Dichter, Journalisten und Blogger würden diese Männer zu Helden machen, bemängelte die NZZ. Die Autorin enttarnt in ihrer Geschichte den Artikel in der NZZ als einen „Versuch der Entzauberung, der wie eine protestantische Predigt daherkam“. Und der Kommentar der Autorin dazu: „Was blieb einem da anderes übrig, als Ausbrecher zu lieben?“ Sowas liest sich ungewohnt alternativ und überraschend.

Das Wallis ist ein eigener Kontinent. Zu diesem Schluss kommt, wer die Geschichten aus dem Buch „Permanent Tourist“ liest. Allerdings – und das muss auch gesagt sein – sind wir Walliser grundsätzlich verbrannte Kinder, wenn es um Klischees geht. In der Geschichte mit dem Titel „Ist Fendant Wein?“ stehen die Sätze: „Wie überall erwartet man auch im Wallis von dir, dass du gesellig bist, und das bedeutet: Du musst trinken. Und das nächste Tourné bezahlen.“ Und weiter: „Wer eine öffentliche Stellung bekleidete oder es in der Politik weit bringen wollte, musste trinkfest sein“. Bezüglich der Sauferei fällt der Leuker-Berlinerin dann aber doch ein Vergleich ein, der das Klischeehafte etwas abmindert: „Im Wallis trank man gemeinsam. In Berlin bediente sich jeder selber“.

Der Wechsel der Zeitenfolge in dieser Geschichte wirft Fragen auf. Der Satz „Du musst (im Wallis) trinken und das nächste Tourné bezahlen“ steht im Präsens, während dann ein Wechsel ins Präteritum stattfindet: „Wer eine öffentliche Stellung bekleidete oder es in der Politik weit bringen wollte, musste trinkfest sein“. Das Präsens ist eine Erzählzeit, die andauert und nicht abgeschlossen ist. Das Präteritum ist erzählte Zeit, die einen abgeschlossenen Zustand wiedergibt. Eine Interpretation könnte sein: Trinken muss man im Wallis zwar immer noch um ein rechter Walliser zu sein. In der Politik aber, da ist es vorbei mit dem Saufen, das war früher, heute braucht ein Walliser Politiker nicht mehr trinkfest zu sein.

Stimmt diese Interpretation? Eine Antwort auf diese Frage mögen die Politiker selber geben. Man frage aber auch deren Kritiker. Und die übrigen Walliser, müssen die wirklich alle trinken und das nächste Tourné bezahlen?

Geschichten über das Wallis werden wahrscheinlich nie frei sein von Vorurteilen, Klischees und Verallgemeinerungen. Man darf dies den vielen Autorinnen und Autoren, die sich bereits am Kontinent Wallis die Finger wund geschrieben haben, auch nicht verargen. Auch wenn seitens der Literaturkritik ein leiser Seufzer in Kauf genommen werden muss. Doch Nachsicht ist angesagt. Hat nicht schon der grosse Maurice Chappaz die Walliser in einen Topf geworfen, indem er sie als die „Zuhälter des ewigen Schnees“ bezeichnete? Literatur darf das. Geschichten dürfen das. Denn Geschichten handeln auch mit Fiktion. Und eigenes Erleben muss nicht historischen oder ethnologischen Kriterien genügen.

Mit ihrem Buch wirkt die Autorin wie eine „Botin aus der Fremde“. In der Literaturgeschichte wurde „Der Bote aus der Fremde“ 1885 eingeführt. Es war dies eine Figur im Drama des deutschen Naturalismus, die Bewegung in die Handlung bringt. „Der Bote aus der Fremde“ kann auch als eine Art Unruhestifter gesehen werden. Er bringt die Handlung aus dem Gleichgewicht und gibt eine neue Richtung vor, in der sich das Geschehen entwickeln soll.

Auch die Autorin des Buches „Permanent Tourist“ ist eine Botin aus der Fremde. Mit ihren Geschichten bringt sie Bewegung in die Diskussion um das Wallis und die Walliser. Dabei wirkt sie in manchen Geschichten als eine Unruhestifterin, die mutig eine neue Richtung vorgibt. An der Vernissage meinte die Autorin auf die Frage des Verlegers, was man denn im Wallis verändern und besser machen könne: „Die Walliser müssen sich öffnen, sie müssen eine grössere Perspektive einnehmen“.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur: Christine Pfammatter: Permanent Tourist. Nomadin zwischen Berlin und Leuk. rottenedition 2017, Rotten Verlags AG Visp, 191 Seiten.