Spurensuche im Tessin

 

Davon hatte ich ein Leben lang geträumt: Im Herbst ins Tessin reisen, nach Montagnola, und dort vor der berühmten Casa Camuzzi sitzen (Bild). Dort, wo einst der Schriftsteller Hermann Hesse lebte, dem ich mich sehr verbunden fühle. Seine grossen Werke „Siddharta“ und „Der Steppenwolf“ hat er hier geschrieben. Und hier schrieb Hermann Hesse auch seinen „Demian“, die Geschichte einer Jugend, die ich vor drei Jahren zu einem Schauspiel umschrieb und als Welt-Uraufführung auf die Bühne brachte. Auf den Spuren von Hermann Hesse verbrachte ich die vergangenen schönen Tage dieses Spätsommers, wanderte durch die bunten Kastanienwälder und besuchte all die Orte, die für Hermann Hesse dichterische Inspiration waren.

Auf den Spuren von Hermann Hesse habe ich die Tessiner Landschaft durchwandert, und wie Hesse fühlte ich mich magisch von ihr angezogen. Hermann Hesse versuchte hier im Jahr 1919 einen Neubeginn. Als der Krieg zu Ende ging, hatte sich in Hesses Leben viel verändert. Ausgebrannt und verzweifelt suchte er in Montagnola die Einsamkeit und die Besinnung, um dann vielleicht wieder zu neuen Ufern aufbrechen zu können. Als „ein kleiner abgebrannter Literat, ein abgerissener und etwas verdächtiger Fremder, der von Milch und Reis und Makkaroni lebte, seine alten Anzüge bis zum Ausfransen trug und im Herbst sein Abendessen in Form von Kastanien aus dem Wald heimbrachte“, bewohnte Hesse in der Casa Camuzzi vier Zimmer.

Dieser Sommer in Montagnola war eine der schöpferischsten Phasen im Leben Hesses. Warum? Das konnte ich in den letzten Tagen aus eigener Anschauung erfahren. Mir erging es wie Hesse. Er schrieb: „Entscheidend waren Atmosphäre, Klima und Sprache des Südens, dazu ein Sommer, wie ich wenige erlebt habe, von einer Kraft und Glut, einer Lockung und Strahlung, die mich mitnahm und durchdrang wie starker Wein“. Hesse konnte endlich wieder arbeiten. Er wagte auch in seinem Schreiben einen Neuanfang. Seine Erfahrungen flossen in den Roman „Demian“ ein, der unter dem Pseudonym Emil Sinclair erschien.

Wohl am schönsten eingefangen hat Hermann Hesse die Tessiner Umgebung in der autobiographischen Erzählung „Klingsors letzter Sommer“. Darin lese ich die folgenden Zeilen (leicht gekürzt): „Ich stand nach Mitternacht auf dem schmalen Steinbalkon meines Abeitszimmers. Unter mir sank tief und schwindelnd der alte Terrassengarten hinab, ein tief durchschattetes Gewühl dichter Baumgipfel, Palmen, Zedern, Kastanien, Judasbaum, Blutbuche, Eukalyptus, durchklettert von Schlingpflanzen und Lianen.“ 

Hesse widmete sich in Montagnola jedoch nicht nur dem Schreiben. Er malte auch Tag für Tag viele hundert Studienblätter voll. Und er zeichnete, hatte regen Verkehr mit vielen Menschen, hatte zwei Liebschaften und sass manche Nacht im Grotto beim Wein. Seine Kerze brannte „an allen Enden zugleich“, wie er selber über seine Zeit in Montagnola schrieb.

Als Hermann Hesse 40 Jahre lang in Montagnola grosse Weltliteratur geschrieben und dafür den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, schaute er sentimental und melancholisch auf sein Leben zurück. Hermann Hesse schrieb: „Das Märchen-Tessin unserer guten Zeiten ist nicht mehr da. Die grosse Landschaft freilich ist die selbe, die Berge und Täler, noch immer mit viel Wald, aber die Dörfer sind Vorstädtchen geworden, an Stelle der Rebhänge und Wiesen sind Neubauten mit umzäunten Gärtchen entstanden und breite zementierte Autostrassen, im Tal entstehen Fabriken…“.

Im Spätsommer 1962 starb Hermann Hesse. Er wünschte sich, in der Tessiner Erde begraben zu werden. Seine Hoffnung sollte sich erfüllen. Mit jährlich bis zu 20’000 Besuchern aus aller Welt ist das Hermann Hesse Museum Montagnola heute zu einem bedeutenden Anziehungspunkt  im Tessin geworden.

Text und Foto: Kurt Schnidrig