Verliebt in die verrückte Welt

Zum Abschluss meiner Tessiner Reise auf den Spuren von Hermann Hesse nehme ich ein beglückendes Lebensgefühl aus Montagnola mit nach Hause. Beim Studieren von Hesses Schriften bin ich auf einen Satz gestossen, der mich grenzenlos optimistisch in die nun anstehende kalte Jahreszeit in den Norden entlässt. „Und allem Weh zum Trotze bleib ich verliebt in die verrückte Welt“ endet Hermann Hesses berühmtes Gedicht von der gestutzten Eiche. Ins Dasein verliebt ist dieser Schriftsteller zeitlebens geblieben, und er ermuntert uns, die Krisen als Chancen zu begreifen.

Nicht wirklich erstaunlich ist die weltweite Renaissance dieses Autors. Bereits wenige Jahre nach seinem Tod ist Hermann Hesse zum Popstar der jungen Generation aufgestiegen. Damals, in den 70er-Jahren, waren es die Gegner des Vietnamkriegs, die den Schriftsteller zu einem weltweiten Phänomen hochstilisierten. Einen ähnlichen Vorgang sucht man in der deutschen Literaturgeschichte vergebens. Hermann Hesses Bücher sind inzwischen in sechzig Sprachen übersetzt und in mehr als hundert Millionen Exemplaren auf der ganzen Welt verbreitet.

In der Statistik seiner Leser liegen junge und ältere Menschen an der Spitze. Dagegen fehlen die Jahrgänge des sogenannten Establishments. Hermann Hesse ist einerseits der Popstar der jungen Generation, die gegen die erstarrten Lebensformen  der Väter rebellieren und noch voller Ideale ist.  Andererseits finden im Rentenalter nicht wenige wieder zu diesem Autor und zu den guten Vorsätzen ihrer Jugend zurück.

Was die Jungen und die Alten an Hesses Schriften fasziniert, das ist seine lebensbejahende Devise: „Auf den Einzelnen kommt es an!“ Dass die Gesellschaft auch heute noch nur einen Bruchteil der Möglichkeiten zulässt, die ein Einzelner auszuschöpfen imstande wäre, ist beschämend. Nur wenige Firmen und Unternehmen haben erkannt, welch reiches Potenzial insbesondere in älteren Menschen schlummert. Doch viele werden lieblos aufs Abstellgleis geschoben. Das Älterwerden wird als Verfall betrachtet und der reiche Erfahrungsschatz reifer Menschen bleibt brach liegen.

Dass wir mit zunehmendem Alter und mit der Angleichung der Kulturen immer mehr von uns preisgeben und immer weniger von unseren Begabungen praktizieren können, dies hält Hermann Hesse für die Ursache der meisten Übel. Mit diesen Gedanken ist er sogar unserer modernen Zeit immer noch weit voraus.

Wegen seiner überkonfessionellen Spiritualität in Büchern wie „Siddharta“ und „Das Glasperlenspiel“ hat er überdies den etablierten Kirchen neue Wege aufgezeigt. Durch das Einbeziehen von Kulturen und Religionen, die während Jahrtausenden ohne Kriege ausgekommen sind, hat er neue Glaubensformen zur Diskussion gestellt. Was die christlichen Kirchen mit ihrer Intoleranz und mit ihrer Obrigkeitshörigkeit jahrhundertelang ausgegrenzt haben, das hat er symbolhaft aus dem Hinduismus, dem Buddhismus und dem Taoismus extrahiert.

Was eine Reise durch die Tessiner Wälder auf den Spuren von Hermann Hesse jedoch besonders zu Tage fördert, das ist seine menschliche Integrität. Er hat gelebt, was er als Schriftsteller vertreten hat. Und allem Weh zum Trotz blieb er verliebt in eine verrückte Welt. Am Beispiel eines verschnittenen und dennoch immer neue Blätter treibenden Baumes ermutigt er uns, gleich ihm den Mut niemals zu verlieren, im Gedicht „Gestutze Eiche“:

Wie haben sie dich, Baum, verschnitten / Wie stehst du fremd und sonderbar! / Wie hast du hundertmal gelitten, / Bis nichts in dir als Trotz und Wille war! / Ich bin wie du, mit dem verschnittnen, / Gequälten Leben brach ich nicht / Und tauche täglich aus durchlittnen / Rohheiten neu die Stirn ins Licht. / Was in mir weich und zart gewesen, / Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt, / Doch unzerstörbar ist mein Wesen, / Ich bin zufrieden, bin versöhnt, / Geduldig neue Blätter treib ich / Aus Ästen hundertmal zerspellt, / Und allem Weh zum Trotze bleib ich / Verliebt in die verrückte Welt.

Text und Foto: Kurt Schnidrig

Literatur: Hermann Hesse: Verliebt in die verrückte Welt. Mit einem Vorwort von Volker Michels. Insel Taschenbuch 3651. 209 Seiten.