Debatte über Lust und Liebe

Was in der Literatur schon längst ein Trend ist, kommt jetzt ins Fernsehen: Der „Service Porno“. SRF will den Porno aus der Schmuddel-Ecke holen und das Thema „hoch philosophisch“ aufarbeiten, dafür geben sich die Macher der gescheiten Sendung „Sternstunde Philosophie“ her. Sternstunde-Moderatorin Barbara Bleisch sagt dazu: Es geht darum, dem Publikum kluge Gespräche darüber zu bieten, was genau wer und aus welchen Gründen reizvoll findet (Blick 24.10.2017).  In der Literatur sind Selbsterfahrungs-Trips ins Reich von Lust und Liebe angesagt, jenseits von Monogamie und Kleinfamilie. Als Experimentierfeld eignen sich Weltstädte wie Tokio (Bild) oder San Francisco.

Ein Buch der Amerikanerin Emily Witt erobert in diesen Wochen das US-Feuilleton. Nun ist es auch in deutscher Sprache erschienen. Der Titel: „Future Sex. Wie wir heute lieben. Ein Selbstversuch“ (Suhrkamp Verlag 2017). In San Francisco hat sie sich ins Reich von Liebe und Lust begeben. Einfach darum, weil sich eine solche Recherche spannender liest, wenn sie mit eigenen Erfahrungen angereichert ist. San Francisco ist spätestens seit den legendären 60er-Jahren jener Ort, wo Menschen alles ausprobieren, was über eine gewohnt-übliche Zweierbeziehung hinausgeht. Noch heute würden dort viele an die freie Liebe glauben, berichtet Emily Witt schwärmerisch nach ihrem Selbsterkundungs-Trip.

Der Bericht der renommierten Reporterin Emily Witt – sie arbeitet für den „New Yorker“ und für die „London Review of Books“ – hätte so etwas ähnliches werden sollen wie Gay Taleses Buch über die sexuelle Revolution in den 70er-Jahren. Nachdem ihre eigene Liebesbeziehung zerbrochen war, hatte sie sich aufgemacht, während fünf Jahren den Avantgarde-Sex zu erkunden. Was dabei herausgekommen ist, hat aber nicht das Potenzial zu einer neuen sexuellen Revolution. Dies auch deshalb nicht, weil die Kleinfamilie immer noch die gesellschaftlich am häufigsten anzutreffende Form ist.

Was sich in den letzten Jahren in Richtung einer sexuellen Revolution hin bewegt hat, das sind vor allem digitale Errungenschaften. Autorin Emily Witts Recherchen fördern dabei neue Märkte zu Tage wie Online-Dating, Live-Webcams, Polyamorie und vor allem enorme Massen an pornografischen Materialien. Dabei sei nicht einfach alles nur schlecht, kommt die Autorin zum Schluss. Es handle sich dabei um neue Freiräume und um kreative Phantasien, schlussfolgert Emily Witt. Sie fordert denn auch mutig einen neuen Feminismus, der darin bestehen müsse, alle Phantasien von Frauen zu akzeptieren. Weil viele Menschen heute viel später oder überhaupt nicht heiraten, hätten sie mehrere Beziehungen und auch mehr unverbindlichen Sex, resümiert die Autorin. Dabei sei die Akzeptanz gegenüber anderen sexuellen Identitäten und Praktiken gewachsen.

Neu an der Debatte über Lust und Liebe ist, dass sie in der breiten Öffentlichkeit geführt wird, und zwar bewusst philosophisch in kluge Gespräche verpackt. Was die Autorin Emily Witt für Amerika ist, das ist die junge Basler Autorin Laura Wohnlich für die Schweiz. Ihr Buch ist aus der Perspektive eines Escort-Girls geschrieben und trägt den Titel „Sweet Rotation“ (Piper Verlag München 2017, 333 Seiten). Auch in diesem Roman geht es vor allem um Sex. Die skurrilen Phantasien überfordern allerdings die Protagonistin derart, dass sie den Ausstieg aus den Branche probt.

In der Literaturgeschichte ist das Phänomen bekannt als „Literatur aus dem Rinnstein“. Zur Zeit des Naturalismus, um 1900 also, gehörten zum Genre der Rinnstein-Literatur vor allem Dirnen-Geschichten, so benannt nach Hans Ostwalds Buch „Das Berliner Dirnentum“. Zur Rinnstein-Literatur gehörten aber auch Geschichten aus den unteren sozialen Klassen und aus den gesellschaftlichen Randgruppen.

Wenn die intellektuelle Philosophie-Abteilung des Fernsehens SRF glauben sollte, mit der Debatte über Lust und Liebe attraktives Neuland zu betreten, dann irrt sie sich. Was „Service Porno“ anbieten will, nämlich Selbsterfahrungs-Berichte von Insidern, das reicht in der Literaturgeschichte bis in die Zeiten um die vorige Jahrhundertwende zurück. Und – wie fast immer – kommt aus den USA, was bei uns für Leser- und Zuschauer-Quoten sorgen soll.

Text und Foto: Kurt Schnidrig