Momo und der Zeitforscher

Immer wieder komme ich ins Staunen, wenn ich erlebe, wie ein Buch einen Menschen prägen und verändern kann. Wir alle kennen das kleine Mädchen MOMO aus dem Roman von Michael Ende. MOMO ist das Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Von dieser Kinderbuch-Figur hat sich der Unternehmer und Zeitforscher IVO MURI motivieren lassen (Bild). Ich durfte mich mit ihm unterhalten.

MOMO ist mitschuldig daran, dass IVO MURI zum Zeitforscher wurde und dass heute in Gondo ein Zeitforschungsinstitut steht. MOMO aus dem Roman von Michael Ende zeigt anschaulich, was uns modernen Menschen heute fehlt: Man muss dem Vogel zuhören können, auch wenn er nicht zwitschert. Denn plötzlich beginnt er zu zwitschern aus lauter Freude, dass ihm jemand zuhört, ihn beachtet und liebt. Wir haben heute die Wahl zwischen grenzenloser Freiheit und Geborgenheit, sagt Ivo Muri. Grenzen abzuschaffen, erscheine uns heute als grosse Freiheit. Ein Freiheitsgefühl wolle dabei aber nicht so recht aufkommen, stellt er fest. Die heutige Gesellschaft schaffe es nicht, den Menschen ein wirkliches Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Wir fühlen uns hoffnungslos und unfrei, weil die Liebe fehlt.

Menschen, die keine Zeit haben, fehlt es an Liebe – nicht eigentlich an Zeit, weiss Ivo Muri. Im Buch MOMO soll eine Figur namens Fusi die Zeit sparen und einzahlen auf die Zeitsparkasse. Man verspricht Fusi dafür ein besseres Leben. Das ist grenzenlos egoistisch, Ivo Muri spricht von Individualegoismus, der sich heute überall breit macht. Wer anderen zu helfen versucht, kommt selbst in des Teufels Küche. Die Folge davon ist, dass in der Arbeitswelt gepfuscht wird. Der Handwerker muss immer billiger arbeiten, um zu überleben und kann qualitativ nicht mehr zu seiner Arbeit stehen. Die Kunden müssen billig einkaufen, weil auch sie unter Geld- und Zeitdruck leiden. So dreht sich die Hektik-Spirale immer weiter.

Es geht heute bei uns zu und her wie im Buch MOMO: Sobald man die Leute von der Zeitsparkasse auf die Liebe anspricht, wird es gefährlich. Die Leute fürchten, die Zeit zu verlieren. Deshalb reissen sie die Zeit an sich und speichern sie – unsere Lebenszeit. Beppo Strassenkehrer muss nun auch am Sonntag arbeiten. Er arbeitet und hat nun keine Zeit mehr, sich mit MOMO zu treffen. Die grauen Männer (die Zeitdiebe) richten alle als Verräter hin, welche sich ausserhalb der festgesetzten Zeit bewegen. Das Geheimnis der Zeitsparkasse – also des Geldes – darf nicht verraten werden. Die Menschen sollen nicht wissen, wie die Machtstrukturen des Geldes tatsächlich verteilt sind.

MOMO wagt es trotzdem, sich auch ausserhalb der festgesetzten Zeit zu bewegen. Sie wird verfolgt, denn wer denkt, der ist gefährlich. Meister Sekundus-Minutus-Hora lässt MOMO durch die Einsichtsbrille blicken, was hoch gefährlich ist, denn wo kämen wir denn hin, wenn Menschen es wagen, Einsichten zu haben, die den gesellschaftlichen Machtstrukturen widersprechen? Deshalb müssen wir den Mut haben, auch unbequeme Fragen zu stellen. Und wir müssen in uns selber hineinhören.

Im eigenen Herzen hat jeder seine Zeit – seine Melodie. Wir spüren sie nur nicht mehr. Oder wir trauen uns nicht, der Melodie in uns zu folgen. MOMO ist zurück in unserer Zeit. Sie erschrickt ob der Situation, die sie antrifft: Verkehr, Hektik, Fastfood. Kinder laufen im Gleichschritt. Sie haben keine Zeit und müssen sich auf ihre Zukunft in der Erwachsenenwelt vorbereiten. Da ist niemand mehr, mit dem du deine Zeit teilen kannst. Stundenblumen werden gefroren und ausgesaugt. Das gefährlichste im Leben sind die Wunschträume, die in Erfüllung gehen, sagt MOMO.

Der Zeitforscher Ivo Muri wünscht uns allen Mut, dass wir uns folgenden Fragen ohne jedes Tabu stellen:  Wie ist es dazu gekommen, dass wir die im Buch MOMO dargestellten Schreckensszenarien derart präzis in die Realität umgesetzt haben?  Wie können wir den Menschen die Stundenblumen auch in der Realität wieder zurückgeben?

Das Mädchen MOMO und der Zeitforscher IVO MURI haben vieles gemeinsam. Ivo Muri hat mich gelehrt, den Roman MOMO von Michael Ende noch einmal neu zu lesen. Mit ganz anderen Augen. Mit den Augen des heutigen modernen Menschen.

Text: Kurt Schnidrig. Foto: rro