J.S. Bach meets Amy Winehouse

Zu einer musikalisch-literarischen Reise luden junge Musikerinnen und Musiker des Kollegiums Spiritus Sanctus ein (Bild). Die Studierenden des Schwerpunktfachs Musik traten mit einem abwechslungsreichen Programm vors Publikum. Die 35 jungen Menschen scheuten sich nicht, tief in die musikalische Vergangenheit abzutauchen bis hin zu Johann Sebastian Bach, und lustvoll wieder aufzutauchen in der modernen Zeit mit Justin Timberlake und Amy Winehouse. Musik hat immer auch viel mit Literatur zu tun – was mir vor allem beim „Air“ von Bach bewusst wurde, aber auch bei den Songs von Amy Winehouse.

Das „Air“ von Johann Sebastian Bach – im Konzert als krönendes Finale vorgetragen – bewegte mich zutiefst. Das Air ist eine Nebenform der musikalischen Gattung Lied, kann aber auch ein einfaches Instrumentalstück bezeichnen. Wohl das bekannteste Beispiel eines Air findet sich in Bachs Orchestersuite D-Dur BWV 1068. Da schweigen im 2. Satz die Trompeten, Oboen und Pauken. Den liedhaften Satz im 4/4-Takt interpretieren dann Streicher und Basso continuo alleine. Heute wird das Stück häufig für Violine und Klavier nach C-Dur transponiert und nur auf der G-Saite gespielt, was dem Stück auch den Zunamen „Air auf der G-Saite“ gegeben hat. Das Air fehlt heute auf keinem Sampler mit Barockmusik.

Die Musikerinnen und Musiker des Kollegiums Spiritus Sanctus interpretierten das Stück lautmalerisch im Chor. Nun ist ja „Lautmalerei“ eher ein literarischer Begriff. Ich bin der Meinung, dass das Air von Bach gerade dem Fehlen von Worten seine Überzeitlichkeit verdankt. Wer als Chor-Sänger die – für heutige Ohren – unsäglichen Barocktexte liest, hört und singt, der weiss, was ich meine. Viele dieser Texte, die in der Zeit zwischen 1700 und 1800 entstanden sind, wirken heute allzu überladen, geziert und pompös. Auf nur eine Silbe oder auf nur einen Laut gesungen, schwingt das „Air“ besinnlich und ruhig durch den Raum. Es soll bewusst in Lento (d.h. langsam) gespielt werden, und die Dynamik soll ein pp. sein. So entsteht der Eindruck eines Chorals. Ohne Worte, nur mit einer flächigen Melodieführung, erhält das Stück einen schwebenden Charakter. Handelt es sich dabei um Literatur?

In der Literatur heisst die Lautmalerei auch Onomatopoesie. Das ist Klangmalerei, eigentlich ein Stilmittel der Rhetorik. Die Klangmalerei wird in sämtlichen literarischen Gattungen verwendet. Die Onomatopoesie meint die sprachliche Nachahmung von aussersprachlichen Schallereignissen. So gesehen, könnte man auch das Air von J.S. Bach als Literatur bezeichnen.

Auch die Songwriterin Amy Winehouse bediente sich literarischer Techniken. Sie schrieb und sang ihre Songs im Retro-Sixtiestil. In ihrem zweiten Album „Back to Black“ aus dem Jahr 2006 passte sie nicht nur ihren Musikstil den 60er-Jahren an, sondern auch ihren Kleidungsstil, ja sogar ihre Beehive-Frisur. In den 1960er-Jahren entstand in San Francisco die Hippie-Bewegung. Die Hippies wollten eine Abkehr von Materialismus und Leistungsdenken. Ihre Lebensziele waren die Selbstverwirklichung und ein harmonisches Miteinander. Die Literatur der Hippies waren ihre Songs. Hippie-Songs schrieben Geschichte. Insbesondere die Flower-Power-Bewegung lässt sich in verschiedenen Musikrichtungen festmachen, besonders in der Folkmusic und im Psychedelic Rock.

Folkmusic war bei den Songwritern der 1960er-Jahre eine bevorzugte Musikrichtung. Sie war „handmade“, und es brauchte dazu nur wenige Instrumente. Protestsongs von Musikern wie Bob Dylan oder Joan Baez besetzten dieses musikalische Genre. Damit sind wir wieder bei Amy Winehouse, die in ihren Songs diesen Retro-Sixtiestil pflegte. Und nachdem Bob Dylan den Literaturnobelpreis als Songwriter erhalten hat, wäre ja auch Amy Winehouse eine Kandidatin. Uns Literaten soll es recht sein.

Der Konzertabend der jungen Musikerinnen und Musiker des Kollegiums Spiritus Sanctus lud zu einer Reise kreuz und quer durch die Welt der Musik. Für mich war der schöne Abend auch eine Reise durch die Welt der literarischen Songwriter. Anders formuliert: J.S. Bach meets Amy Winehouse.

Text und Foto: Kurt Schnidrig