Dr schönschtusch Schatz

Seit jeher erfreuen sich Bilderbücher bei Kindern grosser Beliebtheit. Auf der Wunschliste an das Christkind stehen Bilderbücher sogar ganz oben. Mit viel Liebe werden selbstgemachte Bilderbücher auf Weihnachtsmärkten angepriesen. Darunter hat es auch pädagogisch und künstlerisch wertvolle Trouvaillen. In meiner Livestream-Sendung „Das Wunder des Lesens“ stellten Daria Burgener und Jeaninne Lerjen im Frühjahr ihre Ideen zu einem eigenen Bilderbuch vor (Bild). Als Lektor durfte ich das Werk der beiden Autorinnen begleiten. „Dr schönschtusch Schatz“ ist nun druckfrisch erschienen und erhältlich. Sie haben es geschafft, den Traum vom eigenen Bilderbuch zu verwirklichen.

Wohl fast alle von uns haben ihre ersten Lese-Erlebnisse mit einem Bilderbuch gemacht. Vielleicht mit „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch? Oder mit „Der Regenbogenfisch“? Oder vielleicht gar mit „Die kleine Raupe Nimmersatt“? Immer war dabei auch der zwischenmenschliche Kontakt wichtig. Der Papa oder die Mama, Beziehungs- oder Lehrpersonen, haben mit ihren Kindern das Bilderbuch angeschaut, erklärt, vorgelesen. Dieses soziale Element ist natürlich auch heute noch wichtig.

Doch geht es nach einigen Technik-Freaks, dann ist das alleinige Vorlesen von gestern. Heute nehmen Kinder auch interaktiv am Lesen und Betrachten von Büchern teil, verkünden einzelne Verlage. Kinder sollen dabei mit den Figuren innerhalb einer Geschichte auch virtuell agieren. Möglich macht dies die sogenannte AR-Technik.

Die Abkürzung AR steht für Augmented Reality. Dazu braucht es eine eigene App, die auf dem Smartphone oder Tablet installiert wird. Wird nun die Kamera von Smartphone oder Tablet aufs Buch gehalten, beginnen die Figuren des Buchs sich zu bewegen, und sie tun das vor dem realen Hintergrund, den die Kamera ja auch mit filmt. Das Kind kann gar zum Regisseur der Geschichte werden, indem es mit Wischgesten die Geschwindigkeit und die Richtung steuert, in die sich die Figuren bewegen sollen. Kinder können auch noch andere Features nutzen: Sie können das Bild verändern oder den Sound zuschalten. So brüllt zum Beispiel der Tyrannosaurus Rex im Bilderbuch auf Kommando um dann schwerfällig über die Seite hinweg zu tapsen.

Wir Literaten setzen auf das „Kopfkino“. Hat ein Bilderbuch nicht primär den Anspruch, den Kindern, unseren Erstlesern, die Liebe zum physischen Buch zu vermitteln? Persönlich bin ich der Meinung, dass die Bilderbücher nicht auch noch in der digitalen Welt enden sollten. Beim Betrachten eines Bilderbuchs – wie auch beim Lesen ganz allgemein – sollen im Kopf der lesenden Person eigene Bilder entstehen. Die menschliche Fantasie ist sehr individuell und wunderschön. Die eigenen Bilder im Kopf, das eigene Kopfkino, ist viel stärker und viel besser als jeder digitale Schnickschnack.

Die Augmented-Reality-App spricht eher technikverliebte Väter an als deren Kinder. Zu diesem Ergebnis kommt die im Sommer 2017 publizierte Kinder-Medien-Studie der Verlage Blue Ocean Entertainment, Egmont Ehapa Media, Gruner + Jahr, Panini, Spiegel und Zeit. Die Studie kommt zum Schluss, dass Vorschulkinder immer noch am liebsten ganz und gar analog spielen. Auf Platz eins der beliebtesten Tätigkeiten steht dabei: mit Freunden zusammen sein, gefolgt von: im Freien herumtollen.

Entdeckt wurde die AR-Technolgie für Bilderbücher übrigens von einem Tüftler aus Graz namens Marco Paul, der in der Spielzeugbranche tätig war. Er absolvierte ein Betriebswirtschaftsstudium und schuf dann das erste Kinderbuch der Welt, das mehrere Entdeckungsebenen, unter anderem auch Augmented Reality, verwendet. Ohne Zweifel sind dies eindrucksvolle spielerische Ergänzungen. Der Erkenntnisgewinn bei derartigen Bilderbüchern mit interaktiven Zusätzen ist jedoch meistens gering. Eine Ausnahme stellen vielleicht Bücher dar, die eine ausgesprochen schwierige und komplexe Thematik transportieren.

Das erste Bilderbuch im Wallis mit Augmented-Reality-Technologie ist „Valis Welt“, und es ist soeben im Rotten Verlag erschienen. In diesem Bilderbuch kann die neue Technologie durchaus gute Dienste leisten, denn das Bilderbuch „Valis Welt“  versucht eine schwierige und komplexe Thematik zu transportieren. Es geht um das Projekt „Raumentwicklung 2020“. Was für Veränderungen das Konzept für künftige Generationen mit sich bringt, das lässt sich erst in ein paar Jahrzehnten sehen. Es werden also unsere Enkel sein, welche sich mit den Folgen der Veränderungen auf dem Gebiet des Kantons Wallis werden auseinandersetzen müssen. So hatte denn der Chef der Dienststelle für Raumentwicklung die Idee, mit einem Bilderbuch den kleinen und grösseren Walliserinnen und Wallisern die Raumplanung näher zu bringen. Nun ja, vielleicht ist die neue AR-Technologie bei dieser komplexen Thematik eine zusätzliche Hilfe. Mit dem Smartphone oder dem Tablet lassen sich kleine Videos direkt ab dem Bilderbuch einscannen und anschauen.

Der mögliche Erfolg der neuen Technologien lässt sich schwer einschätzen. Aus Kinderperspektive betrachtet, erübrigen sich interaktive Zusätze für Bilderbücher. Diese Erkenntnis geht aus der Kinder-Medien-Studie 2017 hervor. Auch literaturtheoretisch soll – aus meiner Sicht – insbesondere auch bei Erstlesern auf die eigene Fantasie gesetzt werden. Die eigenen Bilder im Kopf und das persönliche „Kopfkino“ müssen auch in unserer technikverliebten Zeit das oberste Ziel aller pädagogischen und künstlerischen Bemühungen bleiben.

So gesehen, bleiben kindgerechte Bilderbücher, welche die eigene Fantasie und das persönliche Kopfkino animieren, durchaus im Trend. So sind und bleiben Bilderbücher „dr schönschtusch Schatz“.

Text und Foto: Kurt Schnidrig