Jahr des Biedermeiers

Kein visionäres Denken im Jahr 2018, keine Utopien für die nahe Zukunft, keine frischen Ideen: Geht es nach dem Soziologen und Philosophen Zygmunt Baumann, sieht unsere nahe Zukunft spiessig und bieder aus. Gerade Jüngere hätten die Fähigkeit verloren, sich Gedanken zu machen darüber, was eine gute Gesellschaft ausmacht und wie man unsere Welt verändern und verbessern könnte, schreibt Baumann in seinem Buch „Retrotopia“. Stattdessen sei Nostalgie angesagt und ein Rückzug in die vertraute, gemütliche und heimatliche Welt von gestern.

Egoistisch und kleinbürgerlich ziehen sich viele von uns zurück in eine komfortable Nische. Man möchte seine Ruhe haben vor dieser so ungemütlichen und ungeordneten Welt, meint der Philosoph Baumann. Vergangenheit ist angesagt. Alle unsere Pläne und Ideen sind nicht mehr zukunftsgerichtet, sondern speisen sich aus der Vergangenheit. Das Rückwärtsgewandte, das Konservative und Traditionelle dominiert. Soweit der polnische Soziologe und Philosoph Baumann, der 2017 in seiner englischen Wahlheimat Leeds verstorben ist. Sein Vermächtnis ist sein letztes Buch, in dem er darüber klagt, dass uns das utopische Denken abhanden gekommen ist.

Die Gründe, weshalb vielen von uns die Zukunft egal ist, sind vielfältig. Viele ziehen sich zurück ins Private. Sie befinden sich auf einem Egotrip. Statt kollektiver Interessen stehen persönliche Interessen im Vordergrund. Das sprichwörtliche eigene Hemd ist uns am nächsten. Wir schränken die Meinungsfreiheit anderer ein, um unseren Egoismen freien Lauf zu lassen. Die Politik funktioniert dabei wie die Gesellschaft: Debatten der politischen Parteien zielen nicht auf einen Konsens ab, sondern darauf, die Gegenpartei als taub und blind für die „Tatsachen“ darzustellen. Zudem werden der Gegenseite mangels guter Argumente einfach nur bösartige Absichten unterschoben. An dieser politischen Schlammschlacht mögen sich viele – besonders auch fähige und kompetente – Köpfe nicht mehr beteiligen.

Erinnerungen an das Biedermeier werden wach. Das Biedermeier prägte die Literatur, Kultur und Kunst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Biedermeier war eine Strömung, die man als spiessig, hausbacken und konservativ bezeichnen könnte. Die Flucht ins Private und in eine idyllische kleinbürgerliche Welt war ein typisches Epochen-Motiv des Biedermeiers. Der Begriff geht auf den humoristischen Dichter Eichrodt zurück, der zusammen mit seinem Schulfreund die Figur des spiessigen Gottlieb Biedermaier erfand. Herr Biedermaier war der Inbegriff der Biederkeit. Er interessierte sich nicht für die grosse Politik. Er war kleingeistig. Seine kleine Stube und sein idyllisches Schrebergärtchen bedeuteten ihm irdische Glückseligkeit.

Werden wir im neuen Jahr 2018 zu Herr und Frau Biedermeier? Werden wir zurückblicken statt vorwärtsschreiten? Tatsache ist, dass das Nachdenken über die grossen und wichtigen philosophischen Fragen weniger geworden ist: Wer sind wir? Wo wollen wir hin? Der Soziologe und Philosoph Baumann sieht in seinem Vermächtnis die Menschheit am Scheideweg: Entweder wir reichen einander die Hände, oder wir schaufeln einander Gräber.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig