Von der Kunst des Kritisierens

Eine gute Kritik kann weiterhelfen. Doch nur die wenigsten verstehen sich auf die Kunst des guten Kritisierens. Viele kritisieren andere bloss negativ und lassen dabei ihren eigenen Frustrationen freien Lauf. Im Literaturbetrieb galt Elke Heidenreich lange Zeit als die gefragte Kritikerin. Wer viel kritisiert, der polarisiert. Gewiss bringt Frau Heidenreich viele zum Lesen. Doch manchmal liegt sie mit ihren Beiträgen auch ganz schön quer in der Landschaft. Am 15. Februar feiert sie ihren 75. Geburtstag. Eine Sammlung von Heidenreichs Kurzgeschichten erscheint neu als Taschenbuch.

Auch als Star-Kritikerin darf man nicht alles. Im Spätsommer 2016 lief ein „Literaturclub“ im SRF auch wegen Elke Heidenreich völlig aus dem Ruder. Man traute seinen Ohren kaum, als die gewiefte Kritikerin völlig ausrastete: „Es ist grauenhaft, dieses Buch. Es ist entsetzlich, es ist ein Albtraum, es zu lesen. Das Buch ist unehrlich, verlogen, konstruiert. Und wenn das ernst gemeint ist, dann hat die Autorin eine ernsthafte Störung.“ Weshalb Frau Heidenreich derart ausflippte? Sie enervierte sich über das Debüt der 26-jährigen Zürcher Autorin Michelle Steinbeck. Das war gar nicht fein von Frau Heidenreich. Das war grob, frech und falsch. Falsch deshalb, weil sie vom Werk auf das Leben der Autorin schloss. Falsch auch deshalb, weil Frau Heidenreich eine Autorin, deren Werk sie für nicht gut befand, als Person abqualifizierte und sie für „gestört“ erklärte. Niemandem darf es erlaubt sein, Künstler wegen eines unliebsamen Werkes als geisteskrank zu erklären. Eine Umfrage hatte damals mit über 70 Prozent der Stimmen ergeben, dass Frau Heidenreich im „Literaturclub“ des SRF nicht mehr tragbar sei. Doch Heidenreich garantiert Quoten, und konnte sich wohl auch deshalb an den für sie reservierten Kritiker-Stuhl klammern.

„Alles ist kein Zufall“, so heisst die Kurzgeschichten-Sammlung, die soeben neu als Taschenbuch erschienen ist. Elke Heidenreichs Kurzgeschichten handeln von Auseinandersetzungen, Trennungen, Begegnungen. Manchmal sind ihre Geschichten lustig, dann wieder ganz überraschend, zärtlich auch manchmal, ganz selten sogar humorvoll. Zuweilen verspürt man beim Lesen eine versteckt hintergründige Tristesse. Und ja, manchmal hat es auch die eine oder andere banale Geschichte darunter. Immer aber sind die Geschichten ganz persönlich und ganz prall voller Leben. Dies ist allerdings nur die Einschätzung eines oberflächlichen Lesers. Für eine fundierte Literaturkritik bräuchte es viel mehr.

Eine Literaturkritik schreiben erfordert tatsächlich viel Zeit, ein feines Gespür und vor allem ein umfassendes literarisches Wissen. Eine gute Literaturkritik beginnt mit der Aufschlüsselung des Titels, der den Inhalt und die Bedeutung des Buches abbilden soll. Die einzelnen Bestandteile des Werks sind sodann zu überprüfen und einzuordnen: Wie ist die Handlung gestaltet? Ist sie als abstrakte oder psychologische Reise angelegt? Oder sind einfach Ereignisse aneinander gereiht? Wie beeinflusst der Schauplatz das Thema und die Stimmung? Wie funktioniert das Zusammenspiel der Haupt- und Nebencharakteren? Welches sind ihre Rollen? Verändert sich der Charakter des Protagonisten in der Geschichte? Wächst oder zerbricht er an den Herausforderungen? Wie harmonieren die Teile des Handlungsablaufs (Konflikte, Höhepunkt, Lösung) miteinander? Gelingt es dem Stück, die angestrebte Zielsetzung und Bedeutung zu erreichen? Was möchte der Autor thematisch vermitteln? Aus welchen Erzählperspektiven heraus ist das literarische Werk geschrieben? Es gilt sodann, eine eigene Interpretation zu erarbeiten, die dem Werk gerecht wird. Der Kritiker stellt eine These auf, die er mit Belegen untermauert. Aufgrund der Literaturanalyse lässt sich das Werk dann aufgrund objektiver und subjektiver Kriterien einordnen. Schliesslich ist abzuklären, wie die Techniken des Autors zur Gesamtbedeutung des Textes beitragen.

Kritik und Anerkennung sind konstruktive Führungsmittel, welche die Verhaltensmotivation der Mitarbeiter in jedem Betrieb positiv beeinflussen können. Immer wieder jedoch begehen Kritiker bewusst oder unbewusst den Fehler, Kritik nicht auf die Leistung zu beziehen. Wer persönlich wird, hat meistens schon verloren.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig