Der Camenisch-Sound

Gestern war der Autor und Performer Arno Camenisch zu Gast in Brig. Er las aus seiner Erzählung „Der letzte Schnee“. Er las nicht nur, das wäre eine starke Untertreibung. Er faszinierte, er gestikulierte, er schwadronierte, er fabulierte , er fantasierte und vor allem: er flirtete mit dem Publikum. Nach wenigen Minuten hatte er eine grosse Lesergemeinde zu seiner Fangemeinde gemacht. Verantwortlich dafür war seine Performance, oder besser gesagt, sein unverwechselbarer Arno-Camenisch-Sound.

Stehend vor dem Publikum, in der linken Hand sein 70-Seiten-Büchlein, gestikulierend mit der rechten Hand, die Zuhörerinnen und Zuschauer immer im Auge behaltend, hellwach, auf kleinste Aktivitäten der Leser reagierend und kommentierend, performte er die Geschichte von Georg und Paul. Ihnen verlieh Arno Camenisch eine Stimme, seine eigene Stimme, die er allerdings derart variieren und situativ zu verändern imstande war, dass der Paul und der Georg leibhaftig vor dem geistigen Auge des Publikums auferstanden und erschienen.

Wenn eine Lesung zu einer Camenisch-Performance wird, dann gibt es Szenenapplaus von der Zuhörerschaft, dann hört man ihre Ahhhh’s  und ihre Oooooh’s, dann hört man sie lachen, lächeln, stampfen, schnauben, leise kommentieren. Die Mimik in den Gesichtern der Lesefans spricht Bände, sie verrät Erstaunen, Überraschung, Mitleiden und Mitfiebern. Camenisch versteht es, die Zuhörerschaft einzubeziehen und einzubinden. „Wollen wir eine Pause machen, dann könnt ihr durchschnaufen?“ Oder: „Jetz han i falsch gläse, coffertori!“ Oder er fragt nach beim Publikum: „Hattet ihr früher auch so ein gelbes Büchlein, darin alle Sünden dieser Welt? Bevor wir zum Beichten in den Beichtstuhl gingen, haben wir angekreuzt, was wir verbrochen hatten. Und was in diesem gelben Büchlein nicht zum Ankreuzen drin stand, das war auch keine Sünde! Wer kennt dieses gelbe Büchlein?“ Niemand meldet sich aus dem Publikum, aber alle sind wir wie früher im Beichtstuhl. Persönlich hätte ich zwar eine Antwort parat gehabt.  Wir mussten damals den „Beichtspiegel“ auswendig lernen, 1. bis 10. Gebot, ohne gelbes Büchlein zwar, aber mit dem Kanisi, dem Katechismus. Ich kann mich erinnern, dass ich als kleiner Junge früher mal brav alle 10 Gebote im Beichtstuhl aufgesagt habe. Der Herr Pfarrer hat dafür bloss 3 Vaterunser als Strafe auferlegt. Aber ich beisse mir auf die Zunge und mache nur ein Föteli vom Camenisch (Bild). Der reagiert prompt: „Föteli ja, Video nein!“, ertönt es mitten aus der Geschichte vom Paul und vom Georg. Keine Angst, Maestro, in meinem Blog gibt es keine Video-Funktion. Nur ein Föteli.

Wenn der Winter den Schwanz einzieht, dann ist Arno Camenisch mit seinen deftig-urchigen Sprüchen nicht weit. In seiner Erzählung sprechen die Protagonisten Paul und Georg so eine Art literarische Kunstsprache. Sie besteht im Wesentlichen aus Hochdeutsch, angereichert aber mit den ulkigsten und träfsten Wörtern aus dem Bündner Dialekt. „Wir sind noch tagelang über den Gletscher gezogen und haben nach ihm gesucht, aber kasch tenka, der Gletscher, der Siech, ändert andauernd sein Gesicht, hat er mal einen gfressen…“ Die Bilder, die Metaphern, sind erhellend manchmal, zuweilen laden sie ein zum weiter Imaginieren, sie entzünden die Phantasie.

Publikum ist nicht gleich Publikum, weiss Arno Camenisch, und er verhält sich auch entsprechend. Da wischt der Paul mit dem Lumpen über den Belag seiner Blizzard-Ski, und dem Arno Camenisch fällt dazu prompt eine Geschichte ein, die das Oberwalliser Publikum interessieren müsste, die es aber bestimmt noch nicht kennt. Aber sie passt, die Geschichte: „Was fuhr der Pirmin Zurbriggen?“, fragt Camenisch, „er fuhr einen Kästle-Ski. Der Kästle war aber langsamer als der Blizzard vom Peter Müller. Aber wissen Sie was? Der Pirmin war trotzdem schneller!“ Kleine Anekdote, aber das Publikum ist hellwach und dankt mit einem erlösenden Lachen.

Wir lachen dann, wenn man es nicht erwartet. „Auf dem Sonnenschirm steht … Sinalco.“ Alle lachen, aber warum lachen alle? Vielleicht wegen der Pause, die Camenisch vor „Sinalco“ einschiebt? Oder ist es sein Augenaufschlag? Oder seine Mimik, die uns nach einem Sinalco dürsten lässt? Was auch immer der Grund sein mag, wir lachen. Manchmal ist da auch der Wink mit dem Zaunpfahl. Camenisch mit der Zwischenbemerkung: „Ich freue mich immer, den Satz zu lesen: Ich schalte jetzt den Schlepplift ein. Dieser Satz hat etwas Majestätisches.“ Verstanden? Ja wir haben verstanden, so viel Empathie muss sein.

Wer oder was ist Arno Camenisch? Ein origineller Autor? Ein Entertainer? Eine One-Man-Show? Ein Schauspieler? Ein Artist? Ein Sprachkünstler? Ein schlitzohriger Vorleser? Ein manipulierender Geschichtenerzähler? Vielleicht von all dem etwas? Oder alles das und noch viel mehr? Sagen wir es englisch: Er ist einer der besten Spoken-Word-Performer.

Text und Foto: Kurt Schnidrig