Vergangenheitsbewältigung

Soll man der Vergangenheit ein Denkmal setzen? Soll man sie verarbeiten? Oder ist es angezeigt, auch mal einen Schlussstrich zu ziehen unter das, was war? Wenn es in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur eine Konstante gibt, dann ist dies die Vergangenheitsbewältigung. Einer der sich ein Schriftsteller-Leben lang mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigt hat, ist der Autor Bernhard Schlink. Soeben hat er (fast) einen Bestseller gelandet.

Bernhard Schlink ist der Autor von „Der Vorleser“.  Im Vordergrund steht die ungleich erotische Beziehung des Ich-Erzählers Michael Berg zu der 21 Jahre älteren Hanna Schmitz. Hintergründig fokussiert die Geschichte auf ethische Fragen und auf den Umgang mit den Tätern des Holocaust in der Bundesrepublik der 1960er Jahre. Der Roman aus dem Jahr 1995 zählt mittlerweile zur Schulbuchlektüre an weiterführenden Institutionen.

Jüngerer Mann liebt ältere Frau – dies ist das Motiv, das den Autor Bernhard Schlink bereits im „Vorleser“ beschäftigt hat, und dies ist auch das Motiv, das jetzt wieder auftaucht im aktuellen Roman mit dem Titel „Olga“. Olga ist eine Frau aus ärmlichen Verhältnissen. Sie verliert früh ihre Eltern und verliebt sich in einen wohlhabenden Mann mit dem Namen Herbert. Olga und Herbert, das ist ein Paar, das so gar nicht zusammenpassen will. Und trotzdem liebt Olga ihren Herbert abgöttisch. Doch Herbert ist eben auch ein Abenteurer. Er ist einer, der freiwillig in den Krieg zieht. Er ist einer, der freiwillig zu einer waghalsigen Alaska-Expedition aufbricht.

Den ehelichen Verpflichtungen davonlaufen, sich aus aller Verantwortung stehlen, sein eigenes Leben leben, das ist zwar nicht gerade gentlemanlike. Man könnte es aber etwas eleganter als Aussteigertum bezeichnen oder als Selbstverwirklichung. Herbert markiert einen Protagonisten, der für den Typ des Unentschlossenen steht, der hinter sich keine Brücken abbrechen will, der aber auch keine Visionen hat. Bindungslosigkeit und Rückzug ins Private sind angesagt. Olga hingegen bangt und hofft um ihren Geliebten. Doch schliesslich muss sie ihn verloren geben. Das Band der Freundschaft jedoch, das bleibt bestehen, das muss bestehen bleiben. Jüngerer Mann, ältere Frau, ein Beziehungsroman, ein Liebesroman, ja, aber das ist noch lange nicht alles.

Deutschlands kriegerische Vergangenheit gibt für viele deutsche Liebesgeschichten den Hintergrund ab, so auch für „Olga“. Dies scheint mir denn auch eine Ursache dafür zu sein, dass viele deutsche Romane allzu dicht und unübersichtlich daherkommen. Die deutschen Schriftsteller verpacken in fast jede schöne Liebesgeschichte auch noch den Mief der Weltkriege. So ist auch „Olga“ nicht bloss ein Liebesroman, sondern auch ein Stück längst ab- und ausgestandene Historie. Wir erfahren Uninteressantes von Bismarck, wir überlesen Unwesentliches aus der Weimarer Republik, wir überschlagen Grässliches aus der Nazizeit. Und vor allem: Deutsche Autoren führen uns in einer Endlosschlaufe auf die Kriegsschauplätze der Weltkriege.

Aus Deutschland kommt grosse und epische Literatur, doch gehen die vielen zu einer Geschichte gebündelten Handlungsstränge auch gehörig auf Kosten der Verständlichkeit. Ein Beispiel für diese deutsche Problematik ist eben auch „Olga“. Als Leser müssen wir warten bis zum letzten und dritten Teil der Geschichte, bis wir endlich etwas erfahren zur Innensicht dieser faszinierenden Frauengestalt.

Ein Beststeller trotzdem. Was bleibt, ist die Geschichte einer starken Frauenfigur. Was auch bleibt, das ist die Geschichte über eine Frau, die nie zur Mitläuferin wird, die eigenständig ist, zielstrebig, intelligent und liebevoll. „Olga“ ist ein Roman, der alles hat, was einen Bestseller ausmacht. Nur vielleicht von allem etwas zu viel. Warum nicht mal unter all den kriegerischen und unverdauten Mief der Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen? Warum nicht den Mief der Vergangenheit umwandeln in eine frische Brise? Als Schriftsteller zeigen, wie das Gegenwärtige seine Wurzeln in der Vergangenheit hat?

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig