Student sein, wenn die Veilchen blühen

Bei einem Besuch in Heidelberg war ich überrascht vom frohen und lustigen studentischen Treiben in der Altstadt. Jede studentische Verbindung hat ihre Kneipe, und stolz kündigen die Männer- oder Damenverbindungen ihren Stamm mit einem weithin sichtbaren Wirtshausschild an (Bild). Als ehemaliger Senior der Brigensis – ich führte die Briger Studentenverbindung im Jahr 1974 – war ich erstaunt, dass es diese studentische Welt in dieser Form heute überhaupt noch gibt.

Wie gross der Stress der Studierenden heute ist, beschrieb der Rektor des Kollegiums Spiritus Sanctus kürzlich in unserem Lokalradio. „Eine Maturaprüfung ist wie ein Wettkampf“, sagte er. Und der psychische Druck sei  bei den Prüfungen nicht zu unterschätzen. Als Experte für das Fach Deutsch am Briger Kollegium darf ich mich auf die Prüfungen freuen. So viel Allgemeinwissen wie an einer Maturaprüfung ist bei keiner anderen Gelegenheit abrufbar, heisst es. Ob das Singen und Festen auch heute noch zu einem derart stressigen Studentenleben passt, wage ich allerdings zu bezweifeln.

Während bei uns die studentischen Verbindungen schrumpfen, scheint die alte Burschenherrlichkeit in deutschen Städten wieder Fuss zu fassen. In Heidelberg zumindest ist das so. Rund dreissig Studentenverbindungen habe ich dort gezählt, darunter sind auch reine Damenverbindungen. Zu meinem Erstaunen finden sich sogar wieder einige „schlagende Verbindungen“ in den Kneipen der Altstadt. Wer in eine schlagende Verbindung aufgenommen werden möchte, der muss mit dem Degen eine Mensur bestreiten können. Schlagende Verbindungen betrachten die Mensur als wichtige Hilfe zur Persönlichkeitsbildung. Anders als beim Duell geht es dabei nicht mehr um Leben und Tod. Das Einüben von Tapferkeit durch Überwinden der eigenen Furcht ist das eigentliche Ziel. Ein Zurückweichen wird als Niederlage empfunden, nicht aber eine erlittene Verletzung. Sogenannte „Schmisse“ mit dem Degen sind oberflächliche Verletzungen, die vernarben und ein Leben lang stolz zur Schau getragen werden.

Früher trafen sich die Studenten zur Maifahrt. Die vier grossen Walliser Studentenverbindungen von Brig, Sitten, Martinach und Saint-Maurice hatten sich zur „Vallensis“ zusammengeschlossen,  und sie trafen sich jeweils im Mai. Dabei wurden Reden gehalten und Debatten geführt, vor allem aber wurde gefestet und gesungen, bis sich die Tische bogen. Die Lieder waren im studentischen Liederbuch, „Prügel“ genannt, jederzeit mit Noten und Text abrufbar. Eine Kostprobe möchte ich Ihnen, verehrte Leserin, verehrter Leser, nicht vorenthalten. Das Lied wurde schon im Jahr 1906 von Josef Buchhorn komponiert.

  1. Student sein, wenn die Veilchen blühen, / Das erste Lied die Lerche singt, / Der Maiensonne junges Glühen / Triebweckend in die Erde dringt. / Student sein, wenn die weissen Schleier / Vom blauen Himmel grüssend wehen: / Das ist des Daseins schönste Feier! Herr, lass sie nie zu Ende gehen.
  2. Student sein, wenn die Hiebe fallen / Im scharfen Gang, der selbstgewählt, / Im blutigen Aneinanderprallen / Der Mut sich für das Leben stählt. / Student sein, wenn dein einzig Sorgen, / Ob fest und tapfer du wirst stehen. / An deines Lebens Wagemorgen, / Herr lass die Zeiten nie vergehen.
  3. Student sein, wenn im Abendschatten / Dein Weg sich sacht schon niederneigt, / Von West die Schar der Wolkenschatten / Schon vor das Blau des Tages steigt. / Student sein, wenn der Sang verklungen, / Der deinem Lenz einst Flügel lieh / Und jung du trotzdem mit den Jungen, / Dann war es recht, dann stirbst du nie.

Student sein, wenn die Veilchen blühen. Das war einmal. Oder kommt alles wieder, was einmal war? Ein nostalgischer Spaziergang durch die Heidelberger Altstadt legt diesen Gedanken nahe. Solchen Gedanken nachhängend, habe ich es mir im „Mohr“, in Heidelbergs angesagtem In-Lokal, nach studentischer Manier so richtig gut schmecken lassen.

Student sein, wenn die Veilchen blühen. In der Studentenkneipe ist mir noch eine weitere Strophe dieses Liedes eingefallen, auch dieses Strophe ein „Anachronismus“. Ein Anachronismus ist etwas nicht Zeitgemässes, also (vom Fortschritt) Überholtes. Die Frage ist nur, ob der Fortschritt immer auch besser ist. Romantischer und nostalgischer war es früher allemal. Hermann Hesse allerdings hat hierfür einen treffenden Vergleich gefunden. Die Vergangenheit präsentiere sich häufig als ein goldgerahmtes Bild, schrieb er. Wenn wir heute studentische Texte von damals lesen, dann geschieht dies mit einem schalkhaften Augenzwinkern:

  1. Student sein, wenn zwei Augen locken, / Ein süsser Mund verschwiegen küsst, / Dass jählings alle Pulse stocken, / Als ob im Rausch man sterben müsste. / Student sein in der Liebe Morgen, / Wenn jeder Wunsch ein frommes Flehen: / Das ist das Leben ohne Sorgen! / Herr lass es nie vorübergehen!

Text und Fotos: Kurt Schnidrig