Auf den Golanhöhen

Israel, dieser Keil in der arabischen Welt, hat mich seit jeher magisch fasziniert. Viermal war ich um die Jahrtausendwende in Israel. Jetzt ist Israel einmal mehr in den Schlagzeilen. Der Konflikt zwischen Israel und dem Iran eskaliert. Auf den Golanhöhen, an der Grenze zwischen Israel und Syrien, wird in diesen Tagen der zündende Funke gelegt. Dort oben, wo ich vor Jahren die grossartige Sicht auf Israel und Syrien genoss (Bild), gehen jetzt die Raketen und Bomben nieder. Hier oben auf den Golanhöhen könnte ein verhängnisvoller Funke das Pulverfass Nahost zum Explodieren bringen. Israel greift in den syrischen Bürgerkrieg ein. Gerade rechtzeitig kommt jetzt das Buch von Carla del Ponte, der ehemaligen Bundesanwältin.

Im Namen der Opfer. So heisst das hoch emotionale Buch von Carla del Ponte. Nach sechs Jahren in der Uno-Untersuchungskommission habe sie absolut nichts bewirken können, schreibt die Autorin zutiefst frustriert. Jetzt soll ihr Buch aufrütteln und mobilisieren. Was sie an der syrischen Grenze erlebt hat, geht unter die Haut. Sie beschreibt furchtbare Szenen, die sich in Spitälern und Flüchtlingslagern abspielen. Die EU wäre gefordert. Vor allem aber müssten die USA und Russland aktiv werden. Die ehemalige Bundesanwältin träumt von einem letzten grossen Coup in ihrem Leben: Sie möchte den syrischen Diktator Baschar al-Assad hinter Gitter bringen!

Carla del Ponte ist frustriert. Die vielen Opfer aus den Kriegen dieser Welt verfolgen sie, sie bereiten ihr Albträume. Die Kämpferin gegen das Böse in dieser Welt will noch ein letztes Mal sprechen, und dann für immer schweigen. Noch will sie nicht resignieren. Nach dem Ex-Jugoslawien-Tribunal und nach dem Ruanda-Tribunal sei sie für kurze Zeit in Hochstimmung gewesen, schreibt sie. Sie habe geglaubt, den vielen Opfern aus diesen Kriegen sei nun  Gerechtigkeit widerfahren. Vor allem sind es die vielen Kinder, deren Leid ihr ans Herz geht. Die Jugend in Syrien sei traumatisiert. Es sind dies Bilder von Kindern, die enthauptet werden oder sogar selbst töten.

Die Welt bessert sich nicht. Dies ist das niederschmetternde Fazit, das Carla del Ponte in ihrem Buch zieht. Ihre Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher hätten am tristen Zustand dieser Welt absolut nichts ändern können. Was bleibt, das sei die Hoffnung, dass Politiker wie Assad eine lebenslange Haftstrafe bekommen. Doch auch diesbezüglich ist Carla del Ponte realistisch geworden. Milosevic ist während des Prozesses gestorben, andere Kriegsverbrecher laufen immer noch frei herum.

Die Schweiz liefert Waffen. Sie habe Indizien dafür, dass Schweizer Firmen über Saudi-Arabien ihre Waffen nach Syrien liefern, enthüllt Carla del Ponte in ihrem Buch „Im Namen der Opfer“. Beweisen allerdings könne sie das nicht. Es weist allerdings vieles darauf hin, dass del Pontes Vermutungen zutreffen. Vor einigen Wochen hat Didier Burkhalter gesagt, er sei auch deshalb aus dem Bundesrat ausgetreten, weil er die Waffenexporte der Schweiz moralisch nicht mehr habe verantworten können. Müsste nicht auch diese Aussage die Schweizerinnen und Schweizer mobilisieren?

Ob das Buch von Carla del Ponte etwas ändert? Leider wohl kaum. Um die Menschenrechte stehe es schlechter denn je, schreibt die Autorin tief traurig. Carla del Ponte befürchtet, dass sich daran auch weiterhin nichts ändern werde. Es fehle der politische Wille, an der Situation in Syrien etwas zu verändern. Es fehle auch das Mitgefühl und die Empathie mit den Opfern dieser Kriege und Krisen.

Zurück auf den Golanhöhen. In den Neunzigerjahren stand ich oben auf den mehr als 2000 Meter hohen Bergen. Schützengräben und ausgediente Geschütze erinnern an den Sechstagekrieg (Bild unten). Das Gebiet wurde 1967 von der israelischen Armee erobert und wird seitdem von Israel kontrolliert. Israel rechtfertigt die anhaltende Besetzung mit der militärstrategischen Bedeutung. Von hier oben lässt sich der Nordosten Israels, der Südosten Libanons und der Südwesten Syriens leicht kontrollieren. Was Israel grösste Furcht bereitet, ist dies: Syrien könnte hier oben die Quellflüsse des Jordan zurückhalten und die Versorgung Israels mit Wasser unterbinden.

Komplizierte Weltgeschichte. Damit Israel gegen seinen Todfeind Syrien bestehen kann, bändelt nun Premierminister Benjamin Netanyahu mit Russlands Präsident Putin an. Und dies obschon eigentlich die US-Amerikaner die engsten Verbündeten der Israeli sind. Doch die Beziehungen der Israeli zu Moskau sind auf einem Tiefpunkt angelangt. Schwer vorstellbar, dass sich die Verhältnisse in Syrien und in ganz Nahost vor diesem Hintergrund in Kürze normalisieren werden.

Verdrängen und abschotten. Sie sei gepanzert wie ihr Auto und wie ihre Wohnung, schreibt Carla del Ponte in ihrem Buch. Sie meint damit den Panzer, den sie sich während all der Jahre als Bundesanwältin in Uno-Untersuchungskommissionen hat um ihre Seele legen müssen. Gefühle habe sie sich nicht leisten können. Ich kann Carla del Ponte verstehen. Ich kann nachvollziehen, dass nur überleben kann, wer sich zurückzieht und sein eigenes Süppchen kocht. Resignieren jedoch ist absolut verboten. Die vielen Opfer dieser Welt brauchen uns.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig