Läufer als Persönlichkeiten

Am vergangenen Sonntag gewann der schottische Läufer Robbie Simpson den Aletsch Halbmarathon in der unglaublichen Zeit von einer Stunde und 33 Minuten (Bild). Ist das wichtig? Muss man das wissen? Nein. Das wirklich Interessante ist etwas ganz anderes. Sensationell ist die Tatsache, dass weit hinter Robbie Simpson fast dreitausend Läuferinnen und Läufer das Ziel auf dem Bettmerhorn erreichten. Darunter gestresste Angestellte, überlastete Beamte oder Chefs, die in ihren Betrieben unter Hochdruck arbeiten. Warum tut man sich einen mehr als 21 Kilometer langen Lauf mit mehr als 1000 Höhenmetern an?

Die neuste Literatur zum Thema Laufen offenbart tatsächlich Sensationelles. Was Angestellte, Beamte, Chefs und andere Laufbegeisterte intuitiv spüren, das ist das Folgende: Wer regelmässig und ohne allzu verbissenen Ehrgeiz läuft, der wird kontaktfreudiger und psychisch stabiler. Diese Ergebnisse präsentiert Prof. Dr. Ulrich Bartmann von der Fachhochschule Würzburg in seinem Buch mit dem Titel „Laufen und Joggen für die Psyche“. Er fasst seine Studien folgendermassen zusammen: „Wir laufen für unser seelisches und körperliches Wohlbefinden und nicht, um anderen zu zeigen, dass wir die schnellsten, besten und grössten Läufer sind.“

Läufer sind Sanguiniker. Wir alle kennen das Modell der klassischen vier Temperamente. Der Melancholiker (der Trübsinnige) ist psychisch labil und introvertiert. Der Phlegmatiker (der Schwerfällige, Ruhige) ist psychisch stabil und introvertiert. Der Choleriker (der Aufbrausende, Unbeherrschte) ist psychisch labil und extrovertiert. Der Sanguiniker (der Lebens- und Genussfreudige) ist psychisch stabil und extravertiert. Die Befunde zahlreicher Laufforscher zeigen uns, dass Laufen und Joggen zu mehr Extraversion und weniger Neurotizismus  (= weniger psychischer Labilität) führt. Die untersuchten Läuferinnen und Läufer haben signifikant (also statistisch gegen Zufall gesichert) höhere Extraversions-Werte und niedrigere Neurotizismus-Werte. Dieses Ergebnis bedeutet, dass Läuferinnen und Läufer sich in ihrer Persönlichkeit tendenziell zu Sanguinikern verändern. Sie werden kontaktfreudiger und psychisch stabiler.

Läuferinnen und Läufer sind kontaktfreudiger. Die Gemeinschafts- und Gruppenorientierung zeigt sich in folgenden Stellungnahmen: „In der Gruppe fühle ich mich wohl“; „Die Stimmung in der Gruppe war gut“; Die Gruppe macht es einfacher zu laufen“; Das Laufen in der Gruppe macht grossen Spass“; „Je mehr Gespräche, desto leichter der Lauf.“ Läuferinnen und Läufer sind demnach kommunikativer, teamorientierter, sozialer, extravertierter und kontaktfreudiger.

Läuferinnen und Läufer sind psychisch stabiler. Die ebenfalls nachgewiesene Abnahme bezüglich Neurotizismus schlägt sich nieder in typischen Formulierungen wie: „Bin weniger nervös“; „Innere Unruhe ist verschwunden“; „Bin ruhiger und gelassener“; „Ich fühle mich in unangenehmen, schwierigen Situationen stärker und bin ihnen eher gewachsen.“ Neurotizismus (abgeleitet von Neurose) ist eine der Hauptdimensionen von Persönlichkeit. Sie bezeichnet die emotionale Labilität eines Menschen. Der Begriff und das Konzept gehen auf den Psychologen Hans Jürgen Eysenck zurück.

Nicht die Schnellsten sind die Besten. Laufen bewirkt eine Abnahme des Neurotizismus. Laufen steigert also die emotionale Stabilität. Laufen macht psychisch stabiler. Laufen macht kontaktfreudiger. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass diese Sachverhalte nicht auch für ehrgeizige Läuferinnen und Läufer zutreffen. Es zeigt sich ein Persönlichkeitsunterschied zwischen einem ehrgeizigen Wettkampfläufer und einem Gesundheitsjogger. Nur wer regelmässig ohne verbissenen Ehrgeiz läuft oder joggt, wird psychisch stabiler und verändert seine Persönlichkeit tendenziell zum Sanguiniker hin. So gesehen, sind für einmal nicht die Schnellsten die Besten.

Text und Foto: Kurt Schnidrig