Leukerbad sprengt Grenzen

Im Oberwallis leben 80’000 Menschen, davon lesen nach meiner optimistischen Einschätzung vielleicht 30 Prozent regelmässig Bücher. Zu wenig, um als Germanist, Schriftsteller oder Autor mit Schreiben seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Deshalb sind wir dankbar für das internationale Fenster, das uns jährlich im Juli die Organisatoren des Internationalen Literaturfestivals bieten. Phantasievoll und kreativ gestaltet, geht auch die diesjährige 23. Austragung vonstatten.

19 Autorinnen und 15 Autoren, teils sogar von europäischem Format, geben sich dieser Tage in Leukerbad ein Stelldichein. Da bieten sich in freier Natur, an der Hotelbar oder in eigens aufgebauten Zelten jede Menge Möglichkeiten, mit renommierten Autorinnen und Autoren ins Gespräch zu kommen. Die Autorinnen und Autoren lesen und erzählen vor allem aus ihren Büchern. Es lassen sich aber auch spannende Gespräche verfolgen, die unter dem Motto „Perspektiven“ stehen. Zum Beispiel diskutieren die deutschen Autorinnen Karin Wieland und Sasha Marianna Salzmann über weibliche Vorbilder im Theater. Oder es setzt sich der deutsche Autor Wolfgang Ulrich und der Schweizer Romancier Lukas Bärfuss kritisch auseinander mit der sogenannten „Bekenntnisliteratur“.

Beeindruckt hat mich am Freitag die ungarisch-deutsche Autorin Esther Kinsky, die in einem Zelt vor dem Hotel Regina Therme, hoch über Leukerbad, in einer wundervollen Sommerlandschaft, aus ihrem „Geländeroman“ mit dem bezeichnenden Namen „Hain“ las. Ob sie „Natur“ gezielt als Element für ihren literarischen Vortrag gewählt habe, wollte ich von ihr wissen. Ihre Antwort erstaunte. Als „Naturpoetin“ wolle sie sich nicht schubladisieren lassen. Im Nachhinein kann ich ihre Antwort durchaus verstehen. Was wurde beispielsweise um die Jahrhundertwende zur Zeit der Epoche des Naturalismus mit dem Begriff „Natur“ für ein Schabernack getrieben! Das Kunstgesetz forderte damals sogar Kunst = Natur-x. Die Kunst solle möglichst ähnlich der Natur sein, nur kleine Abweichungen sollten erlaubt sein. Wo bleibt da die künstlerische Freiheit und Kreativität? Esther Kinsky hat sich in ihrer Lyrik den Gesteinen zugewandt, insbesondere dem Schiefer. Das Publikum spendete fasziniert viel Applaus.

Esther Kinsky als literarische Entdeckung. Wer in diesen Tagen durch das literarisch eingestimmte Leukerbad wandert, der muss sich entscheiden. Überall kann man gar nicht sein, wo es literarische Leckerbissen und Häppchen zu konsumieren gibt. Man muss sich entscheiden. Esther Kinsky hat mich begeistert. Vielleicht ist sie eine der letzten grossen europäischen Allrounder-Schriftstellerinnen . Unglaublich, was diese Schriftstellerin schon so alles herausgegeben und ediert hat! Seit mehr als 30 Jahren arbeitet sie als Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen, Englischen. Für ihr literarisches Schaffen konnte sie vielfach Preise entgegennehmen. Grossartig der Plot in ihrem Roman „Hain“. Da schickt sie die Ich-Erzählerin auf italienische Reisen fernab der Touristenzentren und zurück in die Kindheit, in das Italien der Siebzigerjahre.

Un’estate italiana. Ein klein wenig erinnert mich die in Berlin und in Battonya, Ungarn, lebende Schriftstellerin Esther Kinsky an den Dichterfürsten Goethe, der mit seinen „italienischen Reisen“ ganz Ähnliches schuf. Das Bild einer magischen Italianità nämlich. Kinsky macht mit ihren italienischen Erzählungen Lust, sich wieder mal in südliche Gefilde zu begeben. Ins Land, wo die Zitronen blühn. Notte magiche. Un’estate italiana. Vieni con me!

Text und Fotos: Kurt Schnidrig