Junge wilde Dichter

Was nur ist mit den jungen wilden Dichtern los? Dichten ist doch eigentlich ein Privileg der Jungen, der Aufmüpfigen, der Protestierenden und vielleicht auch noch der Verliebten. Einziger junger Wilder, der diesen Namen auch verdient, ist Raphael Urweider. Genauer: Er war ein junger Wilder und hatte früher als junger Wilder protestiert und phantasiert was die Feder hergab. Und jetzt? Jetzt ist er nach einer Schaffenspause zurückgekommen. Er ist reif geworden. Seine Gedichte befassen sich mit der Natur, mit der Gesellschaft, mit der Politik. Was vom jungen Wilden geblieben ist, das ist die kritische Haltung.

Raphael Urweider ist Lyriker, Musiker, Theaterautor und Übersetzer. Vor mehr als 20 Jahren war er schon einmal am Literaturfestival in Leukerbad. Dann hat er sich eine zehnjährige Publikationspause verordnet. Seine Gedichte sind zahmer geworden, dafür ist er sprachlich gereift, seine Sprache liesse sich charakterisieren als reflexiv und sogar als brillant. Ein Beispiel? Reflexiv und brillant finde ich sein Gedicht mit dem Titel „knospe“. Bevor Sie das Gedicht lesen, liebe Leserin, lieber Leser, überlegen Sie sich bitte: Was bedeutet für Sie eine Knospe? Lesen Sie dann das Gedicht.

knospe. die knospe zu viel wissen wollen / zu unzeiten die knospe will in ruhe gelassen werden / eine schöne sanfte ruhe aber auch / eine rühr mich nicht an ruhe / naturgemäss will die knospe / gerade jetzt sterben oder spriessen / ein schöner tod versprechen / sie will aufbrechen / nicht aufgebrochen werden / ein aufbruch zu unzeiten immer zu unzeiten / die knospe ist eine bombe / eine schöne sanfte bombe die nicht / angefasst werden sollte / knospen sind geduld verlangende versprechen.

Wie interpretieren Sie dieses Gedicht? Für mich persönlich bedeutet das Gedicht ungefähr das Folgende: Eine Knospe könnte eine Metapher für eine Geliebte sein. Die Geliebte braucht aber noch etwas Zeit. Die Geliebte möchte sich ihrem Geliebten noch nicht öffnen, noch nicht hingeben. Zu lange hat sie in einer „Rühr-mich-nicht-an-Ruhe“ gelebt. Möglich, dass sie vor Jahren einmal viel Liebesleid und Liebeskummer erlebt hat. Jetzt aber muss die Geliebte sich plötzlich nochmals entscheiden für einen neuen Geliebten. Was soll sie tun ? Sterben oder spriessen? Noch möchte sie nicht angefasst werden. Sie ist jedoch eine schöne sanfte Bombe. Wird sie für ihren Geliebten explodieren, wird ihre Leidenschaft entflammen? Geduld ist gefragt. Geliebte sind wie Knospen. Geliebte sind Geduld verlangende Versprechen.

Ob diese Interpretation im Sinne von Raphael Urweider ist? Diese Frage stellt sich nicht. Die Leserin oder der Leser hat beim Interpretieren absolute dichterische Freiheit. Um bei der Natursymbolik zu bleiben: Was ist wohl besser? Die Einsamkeit oder die Zweisamkeit? Es gibt in unserer Gesellschaft immer mehr überzeugte Singles. Wer alleine lebt, tut sich den Beziehungsstress nicht an. Aber ist Alleinsein wirklich der Weisheit letzter Schluss? Ein alter Ast verholzt und knackt. Aber was ist die Einsamkeit eines Knackens gegen die Zweisamkeit eines Zweigs? Das Gedicht „ast“ von Raphael Urweider gibt die Antwort.

ast. äste verholzen das ist weise / weise ist ein altes wort wie holz / was ist die einsamkeit eines knackens gegen die zweisamkeit eines zweigs / äste verzweigen sind nie allein / allein ist ein ast nur holz / allein ist ein knacken geräusch / geräusch ist ein wort wie wind / wind in kronen aus ästen / kronen auf astreinen stämmen.

Was lässt sich aus diesem Gedicht herausfiltrieren? Allein ist ein Ast nur Holz. Allein ist ein Knacken nur ein Geräusch. Zusammen sind wir aber eine polyphone Melodie. Zusammen sind wir Harmonie.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig