Lippenbekenntnis

Am 6. Juli ist (war) der internationale Tag des Kusses. Und? Wie war es bei Ihnen? Flaute wie immer oder wilde Küsserei wie damals (Bild)? Ja, ich weiss, es gibt zu viele Tage. Es gibt den Tag des Apfels, des Brotes, der Arbeit, der Nachbarschaft… zu viele Tage, die man mit einem Achselzucken zur Kenntnis nimmt. Trotzdem. Den Tag des Kusses sollte, müsste man irgendwie feiern, meine ich. Wer Literatur liebt, der weiss, dass der Kuss in Romanen, Filmen und Liebesdramen das absolut Grösste und Wunderbarste ist. Peter von Matt, Professor für Germanistik an der Universität Zürich, hat den Kuss in der Literatur wissenschaftlich analysiert. Herausgekommen ist dabei ein Werk über „Sieben Küsse“.

Das Küssen ist ein Alltagsgeschäft. Und trotzdem ist jeder Kuss ein Stück vom unendlichen Glück, ein Stück vom Paradies. Davon sind wir allerdings oftmals ein grosses Stück weit entfernt. Denn ein Kuss könnte ja auch bloss ein Lippenbekenntnis sein. Ein Lippenbekenntnis ist eine Heuchelei, eine Unaufrichtigkeit, eine Scheinheiligkeit, eine Vortäuschung, eine Maskerade. Der Judaskuss ist ein biblisches Exempel für den Kuss als eine Verräterei. Doch für viele von uns ist das Leben nach dem Kuss ein viel besseres als zuvor. Wohl jede und jeder erinnert sich noch an den ersten, unbeholfenen und allzu feuchten Kuss. Heimlich und verstohlen von der ersten Geliebten „gestohlen“ oder vom ersten Geliebten „bekommen“. Lange habe ich im Welschen als Deutschlehrer gearbeitet. Dort war es üblich, von den Arbeitskolleginnen zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten links und rechts „abgeschmatzt“ zu werden. Im Welschen feiern die Frauen 365 Tage im Jahr „Tag des Kusses“…

Vom Küssen und den Folgen. Bevor es jetzt heikel wird, ziehe ich mich in die sichere Welt zwischen Buchdeckeln zurück. Die Literatur denkt nicht in Begriffen, sondern in Szenen. Beispielsweise erscheint der Begriff „Glück“ immer wieder auch als körpernahe Begegnung zweier Menschen. Wie im echten Leben, lässt sich auch in der Weltliteratur zwischen Glück und Unheil bringenden Küssen unterscheiden. Sieben Küsse hat sich der Zürcher Uni-Professor Peter Matt vorgenommen. Dabei hat er sich kreuz und quer durch die gesamte Weltliteratur gearbeitet. Er lässt uns zum Beispiel eintauchen in die Welt von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway. Von ihr erfahren wir mehr über die Rolle der Frau und ihr Selbstbild. Wie fühlten sich Küsse in der damaligen Zeit an? Kein Wunder, boomt das Studium der Germanistik. Bei derart spannenden Literaturanalysen!

Professor von Matt führt uns ein in den Literatur-Club der (Un-)Geküssten. Wir feiern mit Gatsby erotisch-ausufernde Feste, die dieser nur deshalb organisiert, um seine Geliebte zurückzugewinnen, an deren berauschende Küsse er sich immer noch schmachtend erinnert. Und ja, sogar in der bürgerlich-spiessigen Welt unseres Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller spielt der Kuss eine alles entscheidende Rolle. Ebenso bei Tschechow, Duras, Kleist und Grillparzer. Glauben Sie mir, liebe Leserin, lieber Leser, der Kuss als ein absoluter Höhepunkt ist bedeutungsvoller als ein kunstvoll konstruiertes Happy End. In vielen Erzählungen und Romanen nimmt das Schicksal nach dem entscheidenden Kuss einen neuen Lauf. Der Kuss, dieser intime Moment, ist für jede Autorin und für jeden Autor eine eminente künstlerische Herausforderung.

Osculologie ist die Wissenschaft vom Küssen. Wer meint, das Küssen sei einem in die Wiege gelegt, der irrt. Leider gibt es noch kein Studienfach, das sich der Wissenschaft der Osculologie widmet. Zweifellos eine riesige Bildungslücke in unserem Bildungssystem. Vom Bussi bis zum Zungenkuss sollte man alle Arten des Knutschens beherrschen. Natürlich gibt es da auch ganz verschiedene Kuss-Typen. Magst du es beim Küssen lieber stürmisch oder zärtlich? Oder kommt es ganz auf deine Stimmung an? Das alles ist wichtig. Denn: Kann man richtig küssen, dann flattern die Schmetterlinge wie wild durch unseren Bauch. Doch ist Vorsicht geboten! Man sollte sich an diese heikle Materie herantasten. Wie jede Wissenschaft, lässt sich auch die Osculologie nicht in einem Crash-Kurs erlernen, vergiss mit einem Literatur-Blog! Trotzdem verrate ich Ihnen hier zwei der häufigsten Fehler, die sich leider oft beim Küssen einschleichen. Erstens: Sie sollten sich beim richtig Küssen genug Zeit lassen. Das bedeutet nicht nur, dass der Kuss an sich gerne auch mal länger dauern kann. Man sollte sich auch Zeit lassen, bis man sich auf das Kuss-Verhalten seines Gegenübers eingestellt hat. Zwischendurch sollte man auch mal kleine Pausen machen, um die Spannung und das gegenseitige Verlangen zu steigern. Zweitens: Die Augen sind beim Küssen geschlossen! So können Sie sich komplett auf den Geschmack und Geruch Ihres Partners konzentrieren. Das sind nur zwei wissenschaftliche Beispiele aus dem weiten Feld der Osculologie. Doch zurück zur gelebten Literatur.

Literarische Kuss-Szenen. Was den Zürcher Uni-Professor so leidenschaftlich interessierte, das ist das Unsagbare, das Ungesagte. Beim Küssen kann ja – zum Glück! – nicht auch noch gleichzeitig gesprochen werden. Wenn sich zwei Lippenpaare berühren, dann ist da aber viel Ungesagtes mit dabei. Sie spüren, wie Ihr Partner, Ihre Partnerin „drauf“ ist. Ist er/sie leidenschaftlich? flüchtig? liebevoll? gestresst? fordernd? kurz angebunden oder nach mehr verlangend? Professor von Matt sucht nach Lücken in der Handlung des Küssens, in die er eindringen kann. Was können uns Küsse „sagen“? Küsse sprechen zum Beispiel von einem jähen Glück, von einer überwältigenden Erfahrung, von einer ansteckenden Vitalität.

Jeder Kuss ist ein besonderer Augenblick im Leben. Der Kuss kann eine ganze Welt verändern. Sei es nun im prallen Leben oder bloss zwischen Buchdeckeln. Und dies nicht bloss am Internationalen Tag des Kusses, sondern an jedem Tag des Jahres.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig.