Sommer in der Stadt

Ankunft in Venedig. Sommer in der Stadt. Der Zug überquert die „Ponte della Libertà“. Es ist die Eisenbahnbrücke, die vom italienischen Festland hinüber zu den venezianischen Inseln führt. Hinüber zur romantischen und magischen Stadt, von der so viele Dichter geschwärmt haben. Venedig im Sommer? Es ist ein Albtraum. Riesige Touristenströme überfallen die Lagunenstadt. In Kanälen drängeln sich die Gondeln wie auf einem Rummelplatz. Am Morgen fallen Touristenmassen von den Kreuzfahrtschiffen über die Stadt her. Mit einem Wassertaxi gelangen wir in den Stadtbezirk Castello. Hier spielt der neue Krimi von Donna Leon. Commissario Brunetti ermittelt allerdings mitten im Winter. Autorin Donna Leon weiss warum.

Stressfrei in Castello. Im Stadtbezirk Castello hat man seine Ruhe. Hierhin muss man in den Sommermonaten ausweichen. Denn mehr als 20 Millionen Besucher drängeln sich jährlich in San Marco oder San Polo. Die meisten davon kommen jedoch nicht nach Castello. Hier hängen Frauen noch die Wäsche an Leinen auf, die quer über die engen Gassen gespannt sind. Hier lässt sich ruhig und friedlich ein Cappuccino schlürfen oder ein Wein trinken. Und dazu lässt sich trefflich ein Buch lesen. Den nunmehr bereits 27. Fall von Guido Brunetti zum Beispiel. In „Heimliche Versuchung“ erzählt Donna Leon eine merkwürdige Geschichte über Liebe und Gerechtigkeit.

Der Winter ist die beste Jahreszeit. Im neuen Krimi von Donna Leon ist es Winter. Mit dem kühlen Wetter hüllt sich Venedig in Nebel, und das Leben im Stadtteil Castello kommt beinahe zum Erliegen. Die nervenden Verkäufer sind verstummt. Commissario Brunetti folgt widersprüchlichen Spuren. Sie sind so verschlungen und vernebelt wie das Wetter zur Winterszeit in Venedig. Kaum nachvollziehbar, dass sich Brunetti hier im Stadtteil Castello verläuft. Brunetti verläuft sich auch in seinen Ermittlungen. Er nimmt eine falsche Fährte auf. Er begeht kapitale Fehler. Das ist ungewohnt. Auch die Gangster sind bereits im Winterschlaf, nichts läuft im winterlichen Venedig. Wenn da nicht die Eliteschule Albertini wäre. Denn es kommen Gerüchte auf, dass der Drogenhandel an der teuren Privatschule floriert. Eine Mutter fürchtet, dass ihr Kind Drogen nimmt. Brunetti geht den Gerüchten nach, und er kann dabei wieder auf die Mithilfe von Signorina Elettra zählen. Die Signorina ermittelt virtuos und illegal, schnüffelt gar in fremdem Datenbanken herum. Doch die Verdachtsmomente münden in einer Sackgasse.

Ein Fall für das Schreibseminar. Bei uns im  Oberwallis, in Ernen, gibt Donna Leon erfolgreich Schreibseminare. Der 27. Fall für Guido Brunetti böte prächtigen Stoff für ein derartiges Schreibseminar. Denn bekanntlich lässt sich aus Schwächen trefflich lernen. Im neusten Brunetti-Krimi mit dem Titel „Heimliche Versuchung“ gibt es gleich mehrere Schwächen in Form von unbewältigten Sequenzen. Da werden zwar hoch interessante Themen angeschnitten. Da werden spannende Fragen aufgeworfen. Doch schlüssig beantwortet werden sie nicht. Vieles wirkt zu offensichtlich konstruiert, und einiges kommt zufällig daher. Die wichtigste Frage bleibt unbeantwortet. Was nun ist mit den Drogenproblemen in der teuren Albertini-Privatschule? Ist bei der Autorin Donna Leon tatsächlich etwas die Luft draussen? Seit nunmehr 25 Jahren schreibt sie jährlich einen, oft sogar zwei neue Brunetti-Krimis. Als Literaturkritiker möchte man nach der Lektüre des neusten Werks das berühmte Brecht-Zitat bemühen: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Zurück im venezianischen Sommer. Während wir in Castello und Cannaregio neben den Kanälen noch einen Wein trinken und dann mit dem Vaporetto zur Insel Burano übersetzen, freuen wir uns auf die ruhigen Gassen und auf die netten Bistros. Und wir lassen den winterlichen Brunetti-Krimi von Donna Leon in Castello zurück. Brunetti findet im neuen Krimi von Donna Leon nur Fragen, keine Antworten. Eine Figur im Krimi, ich glaube es ist Paola, sagt: „Menschen mögen Romane, weil es einen Erzähler gibt, der dem Leser meistens die Dinge erklärt. Wir sind gewohnt an diese Stimme, die uns sagt, was wir denken sollen. Doch das Leben hat keinen Erzähler. Es ist voller Lügen und Halbwahrheiten, voller Unsicherheiten.“

Im Leben verhält es sich anders. Das Leben hat keinen Erzähler. Das Leben ist voller Lügen und Halbwahrheiten, voller Unsicherheiten. Darüber wollen wir nachdenken, zu zweit, jetzt, im Sommer dieser Stadt.

Text und Foto: Kurt Schnidrig