Weischt no wies gsi ischt?

Die Lyrikerin Anna Maria Bacher gilt als die bedeutendste Schriftstellerin der Gegenwart in Walser Mundart. Anlässlich der Brauchtumstage war sie zu Gast im Alpmuseum auf der Riederalp. Eingeladen hatte sie die Leiterin Roberta Brigger. In der heimeligen Stube des Alpmuseums rezitierte Anna Maria Bacher ihre Gedichte in „Pumattertitsch“, das heute nur noch von wenigen gesprochen wird. Die Flötistin Heidi Imhof umrahmte die Lesung mit passenden Musikstücken. Die Begegnung mit der Lyrikerin Anna Maria Bacher war der Höhepunkt der drei Brauchtumstage. Schaukäsen, Buttern, Ziegerherstellung, alte Kinderspiele, Holz sägen und das Tängilu waren weitere hoch interessante und publikumswirksame Angebote während der drei Brauchtumstage.

Als Moderator durfte ich ein paar unvergessliche Stunden mit der Dichterin verbringen. Sieben Bücher mit walserdeutschen Gedichten und Texten hat Anna Maria Bacher bis dato herausgegeben. Bereits während der Gondelfahrt hinauf auf die Riederalp hatte ich einige Mühe, mich an ihre archaische Walser Mundart des Pomatt zu gewöhnen. Zuweilen behalfen wir uns mit der italienischen Sprache, um besonders altertümliche Ausdrücke und Wörter aus dem Pomattertitsch zu klären. Es braucht einen „Switch“ von einigen Minuten, um sich kommunikativ einigermassen ungezwungen und locker verständigen zu können. Im Alpmuseum angekommen, setzten wir uns alle in der heimeligen Stube an einen Tisch. Es galt, den Ablauf des Abends zu besprechen. Wir einigten uns darauf, die lyrischen Texte für die Lesung in drei Kapitel aufzuteilen: Texte über existenzielle Probleme, Texte über die Zerbrechlichkeit des Lebens und schliesslich emotionale Texte.

Am Grossen Aletschgletscher holten wir uns letzte Inspirationen vor der Lesung. Hier oben hatten sich die Heidelbeerstauden bereits herbstlich rot verfärbt, passend zum bekannten Anna Maria Bacher-Gedicht „Minä liebä Herbscht“, in dem die Dichterin diese Jahreszeit als ein Fest feiert, zu dem die Frauen ein Halsband aus Ahornlaub tragen sollen. Unter kundiger Führung des Berglers und Jägers Raymond Tscherrig konnten auch noch erfahrene Berggänger dazulernen, was Fauna und Flora am Aletschgletscher so zu bieten haben. Auf dem Weg zurück ins Alpmuseum, durfte ich viel Interessantes aus dem Leben der Dichterin Anna Maria Bacher erfahren.

Anna Maria Bacher ist 1947 geboren in Gurfulu / Grovella im piemontesischen Pomattertal / Val Formazza. Ihre Ausbildung erhielt sie am Collegio Rosmini in Domodossola. Lange Zeit arbeitete sie als Lehrerin in Zumstäg / Ponte. Dort lebt sie mit ihrer Familie heute noch. Sie widmet sich neben der Haus- und Gartenarbeit vor allem der Erhaltung und Förderung ihrer heimatlichen Walserkultur. Für ihre literarische Arbeit durfte sie mehrere Auszeichnungen entgegen nehmen, darunter auch den Kulturpreis der Enderlin-Stiftung. Seit 1983 erschienen von ihr sieben Lyrikbände. Im vergangenen Jahr brachte sie den Gedichtband „Öigublêkch / Augenblicke / Colpo d’occhio“ mit Gedichten in drei Sprachen heraus. Daraus las sie auch im Alpmuseum auf der Riederalp. Welches sind nun aber die bevorzugten Stoffe und Inhalte für ihre Gedichte?


Existenzielle Probleme.
Die Tatsache, dass die Menschen die Walser Täler verlassen, dass sie in der alten Heimat keine Existenz mehr aufbauen können, bereitet der Dichterin des Walsertums Sorgen. Z Tälli leet – das Tal weint, so heisst eines ihrer bekannten Gedichte. Die Dichterin vermisst die Ruhe und die Beschaulichkeit, die früher das Leben der Walser bestimmten. Nur wenigen mehr ist eine Lenhärtzigi Nacht vergönnt, eine sanfte und geruhsame Nachtruhe also. Manchmal möchte sie einfach davonfliegen. Aber wêr si Fogla heisst es in einem ihrer Gedichte. Sie berichtet von einem Walser Dorf, das nur noch von Katzen besiedelt ist: äs furlassäs Dörfje.

Die Zerbrechlichkeit des Lebens. Anna Maria Bacher kann in der italienischen Sprache oft besser ausdrücken, was gemeint ist: Fragilità – Caducità. Die Zerbrechlichkeit oder Gebrechlichkeit des Lebens zeigt sich beispielsweise am Enn vam Herbscht am Ende des Herbstes, beim Übergang vom Herbst zum Winter also. Oder dann, wenn T Nacht chun, in der Dämmerung, wenn das letzte Tageslicht der tiefschwarzen Nacht weicht. Die Lyrikerin versteht es, in wenigen Worten grossartige philosophische Gedanken auszudrücken: Mit Im Wênn fa der Waret – Im Wind der Wahrheit ist eines ihrer Gedichte überschrieben. Und der Inhalt liesse sich wie folgt zusammenfassen: Im Wind der Wahrheit zerfällt unsere Eitelkeit in eine Handvoll Asche. Das Gedicht Eifältigi Bletter – Einfältige Blätter zauberte den Zuhörern im Alpmuseum ein Lächeln ins Gesicht. Warum sind Blätter einfältig, also dumm? Die Antwort: Die Blätter färben sich wunderbar rot, gelb und orange, sie freuen sich an ihrem bunten Kleid, sie wissen aber nicht, dass dies ihr Totengewand ist, sie wissen nicht, dass sie sterben müssen. Das allerdings gilt auch für das ach so kurze menschliche Leben: Än Öigublekch êscht der Läbtag. 

Emotionen und Hoffnungen. Mit Emozioni e Esperanze schloss die Lyrikerin Anna Maria Bacher ihren sehr eindrücklichen und besinnlichen Rezitationsabend. Wehmütig erinnerte sie sich an das Dorf Puneigä , ein Dorf, in dem niemand mehr wohnt. Oftmals sind es die kleinen Dinge des Lebens, welche in der Dichterin besondere Gefühle wachrufen: I gaa der enki Wägje – Ich gehe durch enge Wege. Ganz besondere Emotionen setzt in ihr die Bisa frei. Die Bisa ist im Pomatterdeutsch der Nebel, und nicht der kalte, steife Wind, wie bei uns. Siwär Frind? Sind wir Freunde? fragt die Dichterin, und sie sehnt sich nach menschlicher Wärme. Mit dem Gedicht Häksä – Hexen verabschiedete sie sich. Es ist Vollmond, nackte Füsse tapsen über den Fussboden, es sind die Frauen des Mysteriums, unheimlich, unerklärlich, archaisch. Ihnen gehört die Nacht.

Liebe Anna Maria, hab Dank für den wundervoll poetischen Tag hoch oben am Aletschgletscher. Du weisst um die Gefährdung der walserischen Bergheimat. Begegne dieser Gefährdung nicht lautstark, aber umso eindringlicher mit den „rumori di silenzio“, mit den Geräuschen der Stille.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig