Bildungsimpulse aus Gondo

Die Interessengruppe der Zeitoptimisten hat höchst interessante Impulse aus dem Stockalperturm in Gondo gesendet. Eingeladen war ich als Interviewer, ich hatte zum Schluss auf den Punkt zu bringen, was von Fachleuten zur Diskussion gestellt wurde. Es ging dabei um nichts weniger als um die komplette Umgestaltung unseres heutigen Schul- und Bildungssystems. Die digitale Bildungsrevolution verändert unsere Schulen und Bildungsinstitutionen radikal. Die digitale Bildungsrevolution ist für unsere Lehrkräfte auf allen Stufen auch eine grosse pädagogische und didaktische Herausforderung. Darüber unterhielt ich mich mit Michael Zurwerra, Rektor der Fernfachhochschule Schweiz und ehemaliger Rektor des Kollegiums Brig und der Kantonsschule Trogen. Mit Prof. Dr. Per Bergamin, Leiter des Instituts für Fernstudienforschung und E-Learning und Inhaber des UNESCO Lehrstuhls für adaptives Lernen sprach ich über neue und faszinierende Technologien, die schon bald in unseren Schulzimmern Eingang finden werden.

Michael Zurwerra wagte einen philosophischen Einstieg. Er erinnerte daran, dass die messbare Zeit eine Erfindung des homo sapiens sei. Die messbare Zeit kann man mit dem Chronometer messen. Wir bezahlen heute die Löhne entsprechend der Anzahl der geleisteten Stunden. Warum aber werden in der Arbeitswelt die geleisteten Stunden bezahlt? Warum wird nicht nach der Güte der Leistung bezahlt? Es gibt eben nicht bloss die messbare Zeit, es gibt auch die Qualität der Zeit. In diesem Sinne müssen wir auch die Bildungsinhalte überdenken. Wir haben heute Studierende, die zu etwas ausgebildet werden sollen, von dem niemand weiss, wie es aussehen soll, führte Zurwerra aus. Bildung als reine Wissensvermittlung müsse in Frage gestellt werden. Zurwerra definierte: „Bildung ist die Fähigkeit, kreativ Kompetenzen zu verbinden, um konkrete Probleme zu lösen.“ Welche Kompetenzen aber sind heute unabdingbar? Die Schule werde sich verändern, doch dies könne und dürfe nicht „topdown“ geschehen. Nicht die Politik, sondern die Gesellschaft werde die Schule zwingen, sich zu verändern. Dabei müsse es künftig auch möglich sein, dass verschiedene Schulmodelle im gleichen Schulhaus stattfinden können, forderte Zurwerra. Er favorisierte eine projektorientierte und prozessorientierte Schule, in der die Studierenden wieder mit Freude lernen können.

Per Bergamin steht ein für das Technologie – gestützte Lernen. Er ist sich dabei bewusst, dass diese neuen Lernformen uns alle vor grosse Herausforderungen stellen. Dazu gehört etwa das Vermitteln der digitalen Kompetenz, das Überbrücken der digitalen Leistungskluft, das Vorantreiben der digitalen Gerechtigkeit und der Umgang mit dem sich stetig wandelnden Wissenstand. Ob er denn dem Menschen im Wettlauf mit der Maschine noch eine Chance gebe? Der Mensch ist kreativ, intuitiv, flexibel, emotional und improvisierend. Die Maschine dagegen ist schnell, genau, objektiv und neutral. Hat da der Mensch gegenüber der Maschine in Zukunft überhaupt noch eine Chance? Per Bergamin antwortete differenziert. Es komme darauf an, für welche Aufgaben eine Lösung gefordert sei. Entsprechend räumt er auch dem bisherigen klassenraumbasierten Lernen weiterhin Chancen ein, dies allerdings in Kombination mit dem Online-Learning. Er favorisiert eine Kombination der Vorteile von beiden Lehr- und Lernformen, was Bergamin mit dem Begriff „Blended Learning“ zusammenfasst. Spannend dürfte es auch bezüglich künftiger Lernhilfen werden. Es soll etwa möglich sein, aus den Gesichtern der Lernenden abzulesen, ob sie interessiert, neutral oder verwirrt reagieren. Die negative Valanz oder die positive Valanz wird dann über neue adaptive Systeme entscheiden, die den Lernerfolg sicherstellen sollen. Dabei werden pädagogische Tutoren die Rolle des Schulmeisters ab Bildschirm übernehmen. Sie heissen dann etwa „Gavin the Guide“ oder „Pam the Planer“. Offene Fragen dürften allerdings die Einführung des Technologie-gestützten Lernens verzögern. Es sind dies grundsätzliche Fragen nach der Technologieakzeptanz, aber auch Fragen den Datenschutz und die Datensicherheit betreffend.

Unternehmer und Zeitforscher Ivo Muri hat die Zeitzeichen-Impulsveranstaltungen initiiert. Sein Anliegen ist es vor allem, die Zeitprobleme zu lösen. Dabei ist für ihn Zeit nicht einfach gleichzusetzen mit der Uhrzeit. Häufig verwechseln wir nämlich die Zeit mit der Uhr, gab Ivo Muri zu bedenken. Die Uhr sei bloss ein durch die Sonne geeichtes Metermass, gab Ivo Muri zu bedenken. Doch Zeit bedeute mehr. Das mache auch schon jeder Zieleinlauf bei einer Sportveranstaltung deutlich. Da löst sich die Zeit in Raumgewinn auf. Ivo Muri hat ganz unterschiedliche Impulsveranstaltungen ins Leben gerufen: Friedensimpulse, Wirtschaftsimpulse, Gesundheitsimpulse und Bildungsimpulse.

Persönliche Nachschrift. Fast vierzig Jahre lang war ich mit Leib und Seele Lehrer, Professor und Dozent. In einigen Punkten haben mich die Bildungsfachleute im Stockalperturm bestätigt. Dazu gehört etwa Michael Zurwerras klares Bekenntnis zum projektartigen Lehren und Lernen, das ich in meiner Zeit als Pädagoge zu allen Zeiten gelebt und geliebt habe. Dazu gehört auch Michael Zurwerras Forderung, dass Schule nicht ständig „topdown“ reformiert und attackiert werden darf. Es gab früher mal eine Zeit, da hat sich die Politik komplett aus dem Schulbetrieb herausgehalten. Die Spezialisten waren wir, die wir täglich im Schulzimmer vor den Studierenden standen. Die Spezialisten waren die Pädagogen, die sich entsprechend ausgebildet und vorbereitet hatten. Heutzutage meinen Politiker aller Schattierungen, in Sachen Schule, Pädagogik und Methodik mitreden zu müssen. Schliesslich hat ja jede und jeder früher mal die Schule besucht. Vorbehalte habe ich jedoch gegenüber einigen Formen des Technologie-gestützten Lernens. Niemals dürften wir die Pädagogin oder den Pädagogen ersetzen durch einen Avatar. Gegen „Gavin the Guide“ oder gegen „Pam the Planer“ als Alleinherrscher im Schulzimmer müsste man eigentlich protestieren. Beizupflichten ist jedoch Per Bergamin in seinem Bemühen, das Online-Lernen mit dem klassenraumbasierten Lernen zu kombinieren.

Tröstlich für die ältere Generation, die noch weitgehend ohne Technologie-gestütztes Lernen die Karriere-Leitern erfolgreich erklommen hat, sind Beobachtungen wie diese: Hoch angesehene Ingenieure und Preisträger auf dem Gebiet der neusten Technologien müssen nach der Sekretärin rufen, weil sie es nicht schaffen, mit der Fernbedienung die nächste Folie auf ihren Power-Points abzurufen. Dies durfte ich im Stockalperturm verschiedentlich bei den Vorträgen der Fachleute (aus der übrigen Deutschschweiz) beobachten. Und ich tat dies nicht ohne ein leises Schmunzeln…

Text und Fotos: Kurt Schnidrig