Dichter des Herbstes

Ein letztes Eis am letzten Tag des Sommers. Den Sommer nochmals schmecken. Die erste Oktoberwoche bringt schon den ersten Schnee. Die Kühle des Herbstes umfängt uns. Bald schon hüllen wir uns in dicke Mäntel. Die fröhlichen Worte des Sommers verstummen. Wir verkleiden auch unsere Sommer-Worte. Die Dichter des Herbstes umhüllen sie mit Melancholie, mit Sentimentalität, mit Wehmut. In der Epoche des Barock thematisierten die Autoren vor allem herbstliche Themen wie Tod und Vergänglichkeit. In der impressionistischen Lyrik allerdings erscheinen wunderschöne und zauberhaft farbige Darstellungen des Herbstes. Als die grossen Dichter des Herbstes gelten Rainer Maria Rilke, Gottfried Keller, Georg Trakl, Theodor Fontane und Christian Morgenstern.

Mit „Wortverkleidung“ habe ich meine Herbstgedichte überschrieben, die ich vor Jahren in einem Gedichtband veröffentlichte. Wer selber Herbstgedichte verfassen möchte, dem stehen verschiedenste Aspekte dieser Jahreszeit zur Verfügung. Der Herbst verzaubert die Welt und macht aus ihr einen völlig neuen, einzigarten Ort. Für mich sind es die Worte, die sich im herbstlichen Gewand ganz anders anhören als noch im fröhlich-sommerlichen Kleid. „Wortverkleidung“ nennen sich meine Texte. Sie sollen den Betrachtenden womöglich nachdenklich stimmen darüber, was verkleidete Worte geben, aber auch nehmen können.

Wortverkleidung (Kurt Schnidrig)

Eingepackt und eingekleidet / in süsslich lila Töne der Zigeunerbraut / in kostümhaft glitzernde Schleier der Schlangentänzerin / in nietenbeschlagen eingeschnürtes Wams des Feuerspeiers / sind Worte / perlend aus goldigreifen Ähren geschüttelt / eingeschlossen in Kristallstufen zur Schau gestellt / flackernd in behäbig baumelnde Windlichter gesetzt / bitter aus herbstlichbraunen Kastanienschalen lugend / arktisch erstarrt aus vergänglichen Eisblumen triefend / eingelullt zerbrechlich im Glasschrein zu tausendjährigem Schlaf / erwartend den Prinzen der freiküsst.

Von strohigen Hülsen (Kurt Schnidrig)

Worthülsen barsten wie Kastanienschalen / schmeckten bitter und waren stachelig zudem / weihrauchverströmende Kastanienhaine verwandelten sich / in ruinenhafte Kulissen eines gespenstischen Hexensabbats / Wortfetzen peitschten klatschend an Kalkmauern und lagen / ungeschützt / verlorene Laute einer guten Fee zerfielen zu Staub / letzter warmer Regen wob gütig knüpfende Fäden / und schwemmte Wortkostüme an aus Sternenstaub / zum Einkleiden von neuen Kobolden und Elfen / die den warmen Südwind mit Zauberstab / in ihr Reich befehlen und / taufrischer Lenzmorgen / aus strohigen Hülsen / aufgären lassen / milde Süsse / aus weissem Licht.

Ofenwarme Erzählgebilde (Kurt Schnidrig)

Unten / in Häuserschluchten / schwankend im Rauch / schaukeln wir jetzt durch Menschen / verfolgt von schreienden Leuchtreklamen / wie Atome bewegen sich die Leiber mühselig / ein Strom zwischen Schächten und dämmernden Mauern / da sind keine Widerhaken für flatternde Augen im blauen Dunst / Stimmen und Sprachen und Laute und Tränen fallen auf gebackene Erde / zischen und verdampfen und werden zu Wolken um zu vergessen was war / Und es dröhnt in den Ohren und das Herz pumpt Licht in den Kopf / nimm den Schatten von der Wand denn Worte würden zerstören / das Neonschiff hebt ab vom morschen Turm zu Babylon / wieder sind alle kleine Kinder die sich wiegend / in der unendlichen Weite wiederfinden und / suchen vergeblich den Märchenprinzen / erstanden von staubpustenden / ofenwarmen Erzählgebilden / Regenbogenland.

(Literatur: Gedichtband „Wortverkleidung“. Gedichte von Kurt Schnidrig mit Skizzenblättern von Barbara Lehner.)