Aus (m)einer Schreibwerkstatt

Mit meinem neuen Roman bin ich auf Lesetour. Die Reise führt mich in den nächsten Tagen an die Nordsee. Von Hamburg bis Husum. Es soll aber auch eine literarische Spurensuche werden. Husum – „die graue Stadt am grauen Meer“ hat durch den Dichter und Schriftsteller Theodor Storm Weltruhm erlangt. In  der Heimatstadt von Storm lesen und schreiben, davon habe ich seit meiner Studienzeit geträumt. Und natürlich den Ufern des legendären Wattenmeers entlang laufen, immer auf den Spuren des „Schimmelreiters“, dieser mysteriösen Figur aus Storms gleichnamiger Novelle. Und – ach ja! – die schönste Novelle der deutschsprachigen Literatur, sie heisst „Immensee“. Storm hat mich mit seiner literarischen Kurzform beeinflusst.

Kann man einen richtigen Roman auf weniger als 200 Seiten erzählen? Diese Frage habe ich mir beim Schreiben meines Erinnerungs-Romans „Vergiss nicht die Blumen in deinem Haar“ oft gestellt. Aber ja, das geht. Allerdings ist dazu der Einsatz einiger literarischer Kunstmittel vonnöten. Der Ich-Erzähler darf nicht seine vollständige Story in chronologisch lückenloser Manier vermitteln. Der Ich-Erzähler ist ein Fragment des Autors, der ausgewählte Erinnerungen in seinen Roman hineinverpackt. Der Ich-Erzähler berichtet von einer bruchstückhaften Vergangenheit, die ihn auch jetzt noch beschäftigt und verfolgt. Vieles ist fragmentarisch und bloss angedeutet. Der Kurzroman darf nebulös bleiben, die Geschehnisse sind angesiedelt zwischen Realität und Traum. Vieles muss die Leserin oder der Leser selber weiterdichten oder weiterträumen. Dies ist zweifellos eine Chance für die Leserschaft. Je kompakter ein Text ist, desto mehr Konzentration verlangt er jedoch dem Leser auch ab.

Der Meister des schmalen Bändchens ist der Franzose Patrick Modiano. Für seine Kurzromane hat er im Jahr 2014 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Immer drehen sich seine Geschichten um das Erinnern. „Schlafende Erinnerung“ heisst sein aktueller Kurzroman mit gerade einmal 112 Seiten. Darin spielt er mehr denn je mit autobiographischen Erinnerungen. Das heimliche Zentrum ist die Stadt Paris in den 60er-Jahren. Patrick Modiano beschreibt die Jahre der Jugendrevolte in der Stadt der Liebe mit viel verführerischem Charme.

Kurzromane sind Stimmungsbücher. Meistens handelt es sich um eine ganz besondere Stimmung, die entsteht, wenn man Geschichten aus der Vergangenheit auftischt. Die Handlung eines Kurzromans ist aufgesplittet, es wird nicht linear erzählt, sondern bruchstückhaft. Oft berichtet der Erzähler aus verschiedenen Epochen. Dazwischen entstehen Zäsuren und Leerstellen, die Platz bieten für eine Interpretation der Leser. Zweifellos sind Kurzromane anspruchsvoller als Romane, die 300 Seiten oder mehr aufweisen, und die alles ausbreiten, was der Leser zum Verständnis braucht. Die Kürze, das Kompakte, lässt der Leserschaft viel Interpretationsraum. In einem Buch soll eine Welt entstehen. Es ist nun aber nicht das Ziel des Autors, diese Welt vollständig abzubilden. Das eigene Dazutun der Leserschaft soll seinen Platz bekommen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig