Im Nebel


Das Wallis ist weitgehend nebelfrei. Dies ist ein Faktum, um das uns die halbe Welt beneidet. Ein paar Gewitterwolken am Himmel, das ist schon das Ärgste, was uns meteorologisch passieren kann. In der Literaturgeschichte ist der Nebel eine Metapher für das Alleinsein und für die Einsamkeit. Kann der Nebel aber auch heilsam sein? Der Nebel umhüllt und verhüllt. Unter dem Mantel des Nebels lässt sich Unangenehmes und Belastendes trefflich verstecken. Fasziniert von dieser Idee, haben sich die beiden Künstlerinnen Agnès de Lestrade (Text) und Valeria Docampo (Illustration) zu einem zauberhaften Bilderbuch motivieren lassen.

Die Schneiderin des Nebels. Das ist eine tiefgründige Geschichte über das Erinnern und über das Verdrängen. Die Protagonistin in diesem Bilderbuch heisst Rosa. Rosa hat ein besonderes Talent. Sie webt aus Nebel heiss begehrte Stoffe. Es sind dies Stoffe, mit denen man unangenehme Dinge unter einem dicken Nebelschleier verstecken kann. Rosa hat viele Abnehmer für ihre Kreationen. So sagt zum Beispiel eine ältere Frau zu Rosa: Ich wünschte mir so sehr einen Stoff, den ich über meinen Spiegel hängen kann. Ich kann nämlich meine Falten nicht mehr ertragen. Oder da kommt Anton zu Rosa, ihn belasten finanzielle Probleme. Er sagt: Ich habe viel zu viele Schulden, die möchte ich unter deinem Stoff verstecken. Aber auch Rosa selber plagen in ihrem Inneren verdrängte Probleme, die sie unter den aus Nebel gewobenen Stoffen verbergen muss. Die Trennung von ihren Eltern beschäftigt sie sehr. Da war der Abschied von ihrer Mutter, die kaum mehr gesprochen hat. Und da ist die Ungewissheit über den Verbleib des Vaters, der kaum je daheim gewesen war.

Feinfühlig und psychologisch motiviert erzählen die beiden Künstlerinnen von Rosa, der Schneiderin des Nebels. Ein Betrachter dieser Bilder muss sich durch den Nebel hindurch orientieren. Bei genauem Hinsehen lässt sich beispielsweise die kleine Rosa vor ihrem Häuschen mitten im Nebel entdecken. Sie ist eben dabei, aus Nebelschwaden einen Stoff zu weben (Bild oben). Wer glaubt, dass Bilderbücher ausschliesslich für Kinder bestimmt sind, der irrt sich. Ein Bilderbuch wie „Die Schneiderin des Nebels“ eignet sich auch als Geschenk für poetisch angehauchte Erwachsene. Und eigentlich ist Agnès de Lestrade ja auch eine Autorin, die für Menschen jeglichen Lebensalters schreibt. Und bei der Illustratorin Valeria Docampo handelt es sich um eine bekannte Designerin und Kommunikatorin. Trotzdem (m)ein Ratschlag: Wer dieses zauberhafte Bilderbuch einem Kind schenken möchte, der sollte das Kind mit diesem Kunstwerk nicht alleine lassen. Es gibt da nämlich einiges an Erklärungsbedarf. „Die Schneiderin des Lebens“ – das ist die hohe Kunst des Textens und Illustrierens.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig. Cover und Illustration: www.mixtvision.de