Die kulinarische Verführung

Ein oppulentens Weihnachtsessen ist vorbei, das Silvestermenu folgt. Und? Hat es geschmeckt? Antworten Sie jetzt nicht einfach mit Ja oder Nein. Ob uns ein Gericht schmeckt, hängt nämlich auch vom Gewicht des Bestecks ab, von der Form des Tellers oder von der Hintergrundmusik. Essen ist nicht einfach bloss der Verzehr von Lebensmitteln zum Zwecke der Sättigung. Die Wissenschaft hat endlich herausgefunden, wie das Essen zu einem Erlebnis wird. Der britische Experimentalpsychologe Charles Spence hat seine Forschungen darüber soeben in Buchform herausgegeben. Darin beschreibt er ausführlich, wie Farben, Formen, Gerüche und Klänge aus dem Essen ein Erlebnis machen.

Riechen sie zuerst am Essen! Der verlockende Geruch einer Speise kann unseren Appetit anregen. Wenn wir erkältet sind, dann stellen wir fest: Das Essen schmeckt nicht mehr. Der Grund ist, dass uns der Geruchssinn fehlt. Genau genommen riechen wir Speisen auf zwei verschiedene Arten. Wenn wir einatmen und einen Duft inhalieren, wird zuerst die orthonasale Aromawahrnehmung aktiv. Noch wichtiger ist aber die retronasale Aromawahrnehmung: Beim Kauen und Schlucken gelangen flüchtige aromatische Verbindungen des Essens aus der Mundhöhle in den Nasenraum. Wir meinen dann, dass wir all das Cremige, Fleischige, Fruchtige in unserem Mund schmecken.

Ein Gericht braucht einen fantasievollen Namen. Je beschreibender und fantasievoller der Name einer Speise klingt, desto besser mundet sie uns. Nun, bei uns gab es zu Weihnachten eine feine Cholera. Zum Glück wissen die wenigsten, dass die Cholera eine schwere bakterielle Infektionskrankheit ist. Die Gommer Cholera ist ein gedeckter Gemüsekuchen, der beim Essen zum Glück keinen Gedanken an die Krankheit aufkommen lässt, die schon fast ganz ausgerottet ist. Der Name „Cholera“ lässt sich herleiten von „Chole“, denn früher wurde der Gemüsekuchen auf offenem Holzkohlenfeuer zubereitet. Namen wie „Weiches Walliser Bio-Ei“, „Kastaniencremesuppe“, „Raclette-Spoom von der Alp“ oder „Roggenchips“ lassen uns bereits das Wasser im Mund zusammenlaufen. Wenn eine Speise einen vielversprechenden Namen oder das Attribut bio trägt, dann schmeckt sie uns besser. Dies haben Experimente mit identischen Speisen ergeben, die verschiedene Namen tragen.

Das Auge isst mit. Bevor wir essen, sehen wir uns die Nahrung genau an. Dabei stellt sich unser Gehirn vor, wie es wäre, diese Nahrung zu essen, und es verknüpft die Nahrung mit einem bestimmten Geschmack. Die Farbe kann diese Erwartung stark verändern. Die Farbe Grün legt uns einen sauren Geschmack nahe, die Farbe Rot dagegen verbinden wir mit besonderer Süsse. Stellen Sie sich vor, die Spaghetti hätten eine blaue Farbe! Schrecklich, nicht? Mit der Farbe lässt sich auch der Geschmack verstärken. Wohl deshalb werden Erdbeeren mit roter Lebensmittelfarbe behandelt, und wenn eine Speise bereits ein wenig süss ist, lässt sich diese Süsse mit roter Farbe geschmacklich noch verstärken.

Musik kann das Essen versüssen. Sehr hohe, glockenhelle Klänge können unser Essen versüssen. Empfehlenswert zum Dessert ist etwa Mike Oldfields Song Tubular Bells. Der Song wird häufig zum Versüssen von Speisen abgespielt, so lässt sich ein Zuviel an ungesundem Zucker vermeiden. Mittlerweile verfügen Spitzenrestaurants über eine ganze musikalische Speisekarte. So lässt sich zum Essen auch bittere Musik abspielen, bei der die Töne zumeist tief sind. Scharfe Musik dagegen besteht aus hohen und schnellen Tönen. Saure Musik wird selten als Hintergrundmusik zum Essen gewünscht, sie tönt denn auch disharmonisch.

Essen kann die Libido fördern. Ob ein Essen allerdings auch verliebt machen kann, darauf hat nur die Roman-Literatur eine Antwort. In Martin Suters Roman „Der Koch“ ist der Tamile Maravan ein in jeder Beziehung leidenschaftlicher Koch. In Sri Lanka hatte ihn seine Grosstante in die Geheimnisse der aphrodisischen Küche eingeweiht. Mit seiner Kollegin Andrea zusammen eröffnet er ein gemeinsames Catering für Liebesmenüs. Anfangs kochen sie für Paare, die ihnen eine Sexualtherapeutin vermittelt. Doch dann spricht sich der Erfolg von Love Food herum. Als Politiker und Wirtschaftsleute sich um Love Food bemühen, fürchtet Maravan, das Geschäft könnte unanständig werden.

Das „Love Menu“ für Silvester. Aus Martin Suters Roman entnehme ich für Sie gerne Maravans Rezept für ein Love Menu: Minichapatis mit Curryblätter-Zimt-Kokosöl-Essenz; Urd-Linsen-Cordons in zwei Konsistenzen; Ladies‘-Fingers-Curry auf Salis-Reis mit Knoblauchschaum; Curry vom jungen Huhn auf Sashtika-Reis mit Korianderschaum; Churaa Varai auf Nivara-Reis mit Mintschaum; Gefrorene Safran-Mandel-Espuma und ihre Safran-Texturen; Süss-pikante Karadmom-Zimt-Ghee-Sphären; Glasierte Kichererbsen-Ingwer-Pfeffermüschelchen; Gelierte Spargel-Ghee-Phallen; Eislutscher aus Lakritze-Honig-Ghee. (Martin Suter: Der Koch, Seite 293).

Das Rezept für dieses Love Menu gilt für zwei Personen bei zehn Gängen. Die Verantwortung für Folgen aller Art lehne ich hiermit ausdrücklich ab. Ich wünsche guten Appetit beim Love Food fürs diskrete Tête-à-Tête.

Bereits in Silvesterlaune, herzlich, Ihr Kurt Schnidrig (Text und Fotos).