Neujahr unter Palmen

Flucht ins Ferienparadies. Die Festtage mit all dem Kommerz und der Völlerei sind nicht jedermanns Sache. Viele flüchten während den noch jungen Tagen des Neuen Jahres in ein südliches Ferienparadies. Persönlich habe ich mir vorgenommen, bis zum Dreikönigstag endlich den Roman „Neujahr“ von Juli Zeh in Ruhe zu Ende zu lesen. Und ja, Juli Zeh thematisiert eben diese Problematik: Wohin während der Festtage, wenn einem im kalten Deutschland (oder in der Schweiz) alles zu viel wird? Angefangen vom Gequengel der Kinder über die Familienprobleme bis zum saukalten und nassen Wetter, das einem die letzte Lebensenergie raubt? Die Lektüre dieses grossartigen Romans hat mich jedoch irgendwie überfahren. Juli Zeh verpackt so viel Psychologie und Hintergründigkeit in die Geschichte hinein, dass man das Buch am Ende zutiefst nachdenklich und erschüttert schliesst.

Ein Familienurlaub wird zum Albtraum. Sind wir für immer von unserer Vergangenheit geprägt? Wird unser späteres Leben bereits in unserer Kindheit vorbestimmt? Oder haben wir es selbst in der Hand, über Glück und Unglück zu entscheiden? Auf diese existenziellen Fragen hält „Neujahr“ von Juli Zeh eine überraschende Antwort bereit. Überraschend deshalb, weil der Roman eigentlich wunderbar harmonisch beginnt. Juli Zeh erzählt im ersten Teil die Geschichte des Familienvaters Henning. Die Silvesterfeier auf der Kanareninsel Lanzarote nimmt eine unglückliche Wendung, als Theresa, Hennings Frau, mit einem anderen tanzt. Enttäuscht und ausgebrannt will der Familienmensch Henning am Neujahrsmorgen mit dem Fahrrad einen steilen Aufstieg auf einen Aussichtsberg auf der Vulkaninsel Lanzarote bezwingen. Seine Ausrüstung ist miserabel, den Bidon mit einem Getränk vergisst er mitzunehmen. Während Henning seine Frau und seine Kinder zurücklässt, kämpft er gegen den Wind und ringt mit der Steigung. Dabei rekapituliert er seine Lebenssituation.

Lebenskrise im Ferienparadies. Während des Aufstiegs auf den Vulkanberg wird sich Henning seiner unglücklichen Lebenssituation bewusst. Er ist es sich gewöhnt, dass seine Gefühlswelt keinen Raum bekommt. Nächtliche Panikattacken erleidet er still und schweigend, damit ja kein Familienmitglied aufwacht. Juli Zeh schildert glaubwürdig und plastisch aus der Innenperspektive, was einen Mann wie Henning an die eigenen Grenzen bringt. Es sind dies die getakteten Tage, dazu das ständige Aushandeln mit seiner Frau, wie es denn nun weitergehen soll, und dies alles unter dem ständig fordernden Quengeln der Kinder. Juli Zeh führt mit ihrem Protagonisten Henning einen neuen Typus von Romanhelden in die Literatur ein: den überforderten Vater. Am Neujahrsmorgen hat er genug. Er besteigt das gemietete Velo und fährt los, den Berg hinauf, immer durch die karge und schwarze Vulkanlandschaft Lanzarotes. Henning kämpft sich die Serpentinen hoch, auch mithilfe einer unbeschreiblichen Wut im Bauch. Je höher er steigt, desto mehr verschiebt sich seine Wahrnehmung. Die Realität verflüchtigt sich. Als Henning die Passhöhe erreicht, überfällt ihn ein Déjà-vu: Hier war er schon einmal!

Ein Trauma aus der Kindheit. Ein Zufall führt Henning auf eine Zeitreise zurück in seine Kindheit. Unter Qualen durchlebt er noch einmal, was ihn früher als Kind fast das Leben gekostet hat. Und was ihn bis heute geprägt hat. Die Erinnerung an das Früher kehrt zurück: Da ist er, Henning, und da ist seine kleine Schwester Luna. Sie machen als Kinder erstmals Ferien auf Lanzarote. Eines Tages findet er sich zusammen mit seiner kleinen Schwester, aber ohne die Eltern, im Ferienhaus wieder. Die Eltern sind weg, sie haben die beiden kleinen Kinder alleine gelassen. Werden die Eltern jemals wiederkommen? Die Verlustängste auf der fremden und unheimlichen Insel traumatisieren das Kind Henning zutiefst. Im zweiten Teil ihres Romans erzählt Juli Zeh nur noch aus der Perspektive des kleinen Knaben Henning, der nun plötzlich in einem Ferienhaus auf Lanzarote das Überleben für sich und für seine kleine Schwester organisieren muss. Die aussichtslose Lage der beiden Kinder weckt das Mitgefühl beim Lesen derart, dass es beinahe schmerzt. Das Ende kommt überraschend. Der Schluss der Geschichte erklärt zwar das Verschwinden der Eltern, nicht aber, wie ein Trauma aus frühester Kindheit später im Erwachsenenalter überwunden werden kann.

Flucht ins Ferienparadies? Die Kindheit ist eine prägende Zeit, die unser späteres Leben als Erwachsene vorbestimmt. Wer in seiner Kindheit etwas Schreckliches weggesperrt hat, der lebt mit einem Monster, das irgendwo in den Tiefen des eigenen Wesens haust. Es braucht dann eine ausserordentliche Extremsituation, um das Monster ans Tageslicht zu holen. Was seinerzeit geschah, verfolgt Menschen wie Henning auch noch als Erwachsene. Das Monster – verstanden als Trauma – löst sich dann in Erinnerungen aus einer fernen Vergangenheit auf. Im besten Fall. Die Flucht ins Ferienparadies hätte sich in diesem Fall gelohnt. Neujahr unter Palmen. Neujahr, um all die Dämonen aus der Kindheit loszuwerden.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig