Im Paradies der Erinnerung

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann, schrieb der deutsche Schriftsteller Jean Paul (1763-1825). Was uns in Erinnerung bleibt, das ist meistens mit positiven Gefühlen verbunden. Wenn wir es schaffen, die glücklichsten Augenblicke unseres Lebens in Erinnerung zu behalten, dann erschaffen wir uns ein Paradies, in das wir uns zurückziehen können. Der Dichter Theodor Storm forderte dazu auf, die zauberhaften Stunden des Lebens an einem Erinnerungsstück festzumachen. So hielt er die  Erinnerung an einen wundervollen Sommertag mit einem grünen Blatt am Leben: Ein Blatt aus sommerlichen Tagen, / Ich nahm es so beim Wandern mit, / Auf dass es einst mir möge sagen, / Wie laut die Nachtigall geschlagen, / Wie grün der Wald, den ich durchschritt. – Doch ist auf unsere Erinnerungen Verlass? Was von dem, an das man sich erinnert, ist auch wirklich wahr?

Erinnerungen sind wie ein goldgerahmtes Bild. Zwei norwegische Autorinnen – Hilde und Ylva Ostby – haben ein Buch geschrieben über das Gedächtnis. Darin warten sie mit vielen Fallbespielen auf, die zeigen sollen, wie unzuverlässig und wie leicht manipulierbar unser Gedächtnis ist. Ihre Studien haben ergeben, dass unsere Erinnerungen kein blosses Abrufen von Fakten sind. Erinnerungen sind vielmehr eine dauernde Rekonstruktion. Erinnerungen lassen sich vergleichen mit einem Theaterstück, das immer wieder neu aufgeführt wird, immer wieder mit neuen Schauspielern, mit wechselnden Requisiten und mit veränderten Textpassagen. Wenn wir uns beispielsweise an unsere Kindheit zurückerinnern, dann verändert sich in unserer Erinnerung das Bild von unserer Kindheit mit zunehmendem Alter immer wieder. Und es scheint so, als ob die sprichwörtliche „Milde des Alters“ dazu beitragen würde, dass wir unser früheres Leben rückblickend in einem optimistisch-rosaroten Licht betrachten. Hermann Hesse schrieb am Ende seines Lebens: „Wenn jetzt noch die Kindheit zuweilen an mein Herz rührt, so ist es als ein goldgerahmtes, tieftöniges Bild, an welchem vornehmlich eine Fülle laubiger Kastanien und Erlen, ein unbeschreiblich köstliches Vormittagssonnenlicht und ein Hintergrund herrlicher Berge mir deutlich wird.“ (Hermann Hesse: Meine Kindheit, geschrieben 1896.)

Ein Gefangener der Erinnerung. Doch nicht immer sind die Erinnerungen ein Paradies. Erinnern Sie sich beispielsweise noch an das schreckliche Attentat auf der norwegischen Insel Utoya aus dem Jahr 2011? Der Attentäter Anders Breivik hatte damals 69 Menschen kaltblütig ermordet. Für ihr Buch über das Gedächtnis sind nun die beiden Autorinnen Hilde und Ylva Ostby mit einem Überlebenden des Massakers nach Jahren zurück an den Schauplatz des Geschehens gefahren. Dabei kamen die Autorinnen zu erschreckenden Ergebnissen: Der Überlebende leidet seit dem Massaker an einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung. Er ist ein Gefangener seiner eigenen Erinnerungen. Er selbst vergleicht seine Situation mit einem Musikstück im Kopf, das ihm zwar nicht gefällt und das er nicht mehr hören möchte. Trotzdem aber wird das Musikstück in seinem Kopf gewissermassen wie in einer Endlos-Schlaufe immer wieder in maximaler Lautstärke gespielt. Das Beispiel zeigt: Erinnerungen können auch quälend und schädigend sein. In diesem Fall sind Erinnerungen nicht das einzige Paradies, sondern eine einzige Hölle, aus der man nur allzu gern fliehen möchte.

Mit der Erinnerung leben. Erinnerungen können Paradies und Hölle zugleich sein. Wir dürfen oder müssen mit ihnen leben. Erinnerungen sind aber – zum Glück! – auch manipulierbar. Negative Erinnerungen lassen sich ins Positive transformieren. Als sich der Dichter Rainer Maria Rilke in grosser Trauer von einer seiner Geliebten trennen musste, da schrieb er ihr die berühmten Zeilen: „Wenn Du an mich denkst, dann erinnere Dich an die Stunde, in welcher Du mich am liebsten hattest.“

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig