Wenn die Sonne nicht wiederkäme

An Maria Lichtmess kommt die Sonne wieder. Dieses Jahr schickte sie ihre Sonnenstrahlen bereits Ende Januar wieder über die Berge in unser Tal (Bild). Was aber wäre, wenn die Sonne nicht wiederkäme? Der Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz (1878-1947) hat dazu eine Geschichte geschrieben, die unter die Haut geht. Ein Drama, an das ich mich in jedem Frühjahr wieder erinnere. Was wäre, wenn die Sonne nicht wiederkäme? Der Regisseur Claude Goretta verfilmte den Ramuz-Stoff bereits im Jahr 1987. Entstanden ist ein bodenschwerer deutsch-französischer Heimatfilm. Si le soleil ne revenait pas spielt in einem kleinen entlegenen Bergdorf hoch über der Rhone am Ende eines Tales, in das sich während sechs langer Wintermonate kein einziger Sonnenstrahl verirrt.

Eine unheimliche Prophezeiung.  Protagonist in dieser düsteren Geschichte ist der weise Kräuterkundige Anzevui. Die Dorfbewohner erschrecken zutiefst, als er ihnen in einer stürmischen Winternacht das Ende der Welt voraussagt. Nach seinen Berechnungen wird die Sonne ab dem 13. April nicht mehr wiederkommen. Dann werde das Dorf im ewigen Winter versinken. Ohne Licht und ohne Wärme sollen dann auch die Herzen der Menschen erkalten, und es werde ein Krieg ausbrechen, glaubt Anzevui zu wissen. Tatsächlich scheint der weise Alte recht zu bekommen, denn Tag und Nacht hüllt eine undurchdringliche Nebelwand das Dorf ein, und das Tageslicht verschwindet dahinter fast ganz. Ob der schrecklichen Weissagungen des Alten geraten die Dorfbewohner in Todesangst. In düsterer Weltuntergangsstimmung sehen sie ihrem baldigen Ende entgegen.

Die Verzweiflung der Dorfbewohner. Ohne Sonne, Licht und Wärme greift die nackte Verzweiflung um sich. Einige Bewohner fürchten sich vor dem Erfrieren. Sie stapeln Holz in ihren Schlafzimmern. Ein altes Ehepaar legt sich eng umschlungen ins Ehebett, die Eheleute warten gottergeben darauf, dass der Tod sie holt. Andere ertränken ihre Not und ihren Kummer im Alkohol. Gezeichnet von Todesangst und Endzeitstimmung erwarten alle das furchtbare Ende aller Zeiten und allen Lebens.

Eine Liebe bringt Hoffnung. Isabelle ist verheiratet, ihr Mann jedoch ist verzweifelt, und er will keine Kinder mehr in eine Welt setzen, der das Licht und die Wärme fehlt. Doch Isabelle hat einen heimlichen jungen Verehrer. Isabelle und Jean glauben an ihre Liebe, auch wenn es eine verbotene Liebe ist. Gemeinsam kämpfen sie an gegen die Hoffnungslosigkeit und gegen die Verzweiflung. Und dann naht der 13. April. Es ist der Tag, an dem die Sonne nicht wiederkommen und die Welt untergehen soll. Isabelle und Jean steigen zusammen durch die Nebeldecke, die das Tal einhüllt. Und da – im Morgengrauen – geschieht das Wunderbare: Die Sonne schickt ihre Strahlen nach langen Wintermonaten erstmals wieder über die Dächer des Bergdorfs.

 

Die Wiederkehr des Lichts und der Wärme. Das Ende dieser Geschichte ist von einer wuchtigen Bildkraft, wunderbar, grandios, bezaubernd. Denn es ist die heimliche Liebe von Isabelle und von Jean, die das Vertrauen, die Hoffnung und die Zuversicht zurückbringen. Der Verzweiflung der Dorfbewohner setzt der Schriftsteller Ramuz den unbeirrbaren Glauben an den Fortbestand des Lebens entgegen: Während sich die Liebenden küssen, küsst die Sonne die Erde.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig