Wir, die Gendersternchen

Liebe Leser*innen. Seit langem studiere ich an der Frage herum, wie ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ansprechen soll. Besonders, wenn Sie im Plural daherkommen. Soll ich einfach frech und patriarchalisch sein und alle meine Lesenden anreden mit „Liebe Leser“? Der maskuline Plural marginalisiert die Frauen. Also doch lieber kompliziert mit „Liebe Leserinnen und liebe Leser“? Und was kommt dann zuerst, die Leserinnen oder die Leser? Früher hiess es „Ladies first“. Aber heute? Da blamiert man(n) sich glatt als bemitleidenswerter Gentleman der alten Schule von vorgestern. Und was ist mit den Transmenschen? Mit Menschen also, die weder Leserin noch Leser sind, sondern etwas dazwischen? Für das dritte Geschlecht gibt es jetzt auch das Gendersternchen. Also dann vielleicht halt doch: Liebe Leser*innen. Bei „Leser*innen“ trifft man dreifach ins Schwarze: Die Anrede gilt für Männer, Frauen und Transmenschen. Ein klassischer Hattrick also, würde man in der Sprache der Fussballer – oh Entschuldigung – der Fussballer*innen sagen.

Patriarchalische Sprache. Immer noch benutzt die deutsche Sprache den maskulinen Plural, um Männer und Frauen zu benennen. Was in der Frühzeit des germanischen Schrifttums noch vertretbar war, das verfängt heute einfach nicht mehr. Im Nibelungenlied, das im 13. Jahrhundert entstand, ist von den „Burgundern“ und von den „Germanen“ die Rede, obschon bereits damals ein Zickenkrieg zwischen Brunhild und Krimhild über das männliche Geschlecht, vertreten durch Siegfried, triumphierte. Wie schon damals, hat der Sieg der Weiblichkeit über die Männlichkeit in der deutschen Sprache keinerlei Spuren hinterlassen. Die deutsche Sprache benutzt den maskulinen Plural, um Männer und Frauen zu benennen, den weiblichen Plural jedoch nur dann, wenn es darum geht, ausschliesslich Frauen zu benennen. Das ist ein Affront gegenüber dem weiblichen Geschlecht, und das nicht nur aus Gründen der Höflichkeit. Immerhin stellen die Frauen mit 50,5 Prozent die Mehrheit der Erdenbewohner.

Sprachliche Eleganz? Sprachpuristen und Alt-Germanisten – oh, Entschuldigung: Sprachpurist*innen und Alt-Germanist*innen – zählen heute zu einer aussterbenden Rasse. Sie waren es, welche die sprachliche Eleganz über die Fairness gegenüber den Geschlechtern gestellt haben. Nun gut, das muss man (frau) einfach zugestehen: Mit langatmigen Formulierungen wie „Leserinnen und Leser“, „Zuhörerinnen und Zuhörer“, „Leserbriefschreiberinnen und Leserbriefschreiber“ würde man (frau) den Text zwar höflicher machen, aber doch auch viel komplizierter und schwieriger zu lesen. Und eben, die Transmenschen, die haben in einem Text auch ihre Existenzberechtigung. Daher (m)ein mutiges Plädoyer für das Gendersternchen. Liebe Leser*innen, solidarisieren Sie sich! Egal ob Frau, Mann oder Transmensch: Gebrauchen Sie das Gendersternchen!

In der Sprache Goethes. Bräuchte es noch Rückhalt und Rückgrat für das Gendersternchen, die Deutschen, die legitimierten Träger (Träger*innen) der Sprache Goethes, liefern jede Menge an Rückgrat und Rückhalt. Der Begriff „Gendersternchen“ ist in Deutschland zum Anglizismus des Jahres 2018 gekürt worden. Das teilte der Jury-Vorsitzende und Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch mit. Stefanowitsch gilt – trotz seines wenig deutsch klingenden Namens -als Verfechter einer geschlechtergerechten deutschen Sprache. Und er liefert auch eine griffige Definition samt Begründung: Gemeint ist mit dem Gendersternchen das Schriftzeichen * zwischen dem Wortstamm und der weiblichen Nachsilbe „in“, also etwa bei „Lehrer*innen“. Der Stern soll es ermöglichen, alle Geschlechter anzusprechen. Das „Gendersternchen“ erlaube es überdies, auch Geschlechter jenseits von Mann und Frau sichtbar zu machen, so die Jury.

Geschlechter jenseits von Mann und Frau. Bitte beachten Sie, liebe Leser*innen, die äusserst sensible Formulierung, derer sich die Jury bedient hat. Das Gendersternchen ermögliche es auch „Geschlechter jenseits von Mann und Frau“ sichtbar zu machen. Zugegeben, da bin ich nun ins Studieren gekommen. Also schon klar, es gibt ja heute Menschen, die im falschen Körper geboren werden, und die dann später operativ eine Geschlechtsumwandlung – physisch, körperlich – vornehmen lassen. Die Jury spricht aber im Plural von „Geschlechtern“ jenseits von Mann und Frau. Könnten sich demnach auch Menschen unter dem Gendersternchen outen, die sich geistig (kognitiv) ab und an in einer anderen Geschlechterrolle wiederfinden?

Wir, die Gendersternchen. Wie sensibel sich der Genderdiskurs zur Zeit anlässt, mag (m)ein persönliches Beispiel illustrieren. Jahrelang war ich ein Sprachprofessor unter lauter Sprachprofessorinnen und habe praktisch nur Studentinnen unterrichtet, und das nur in den „weiblichen“ Fächern Sprache und Literatur. Glauben Sie mir, liebe Leser*innen, das färbt ganz gewaltig ab! Die sogenannt weiblichen Qualitäten – Weitwinkelperspektive statt Tunnelblick, Gefühlhaftes statt Rationales – übernehmen da in einem Mann unweigerlich die Oberhand. Als Mann ist man(n) heute Fussballer, Feuerwehrmann, Mineur, Bauarbeiter oder Kanalisationsreiniger. In diesen Berufen arbeiten noch echte Kerle. Aber ich! Ich gestehe: Ich liebe Sprache, ich liebe Literatur, ich liebe grosse Gefühle, ich liebe zauberhafte Romane, ich liebe Geschichten, ich liebe die Romantik, ich singe in einem Chor, der faktisch nur aus Frauen besteht. Ich, das Gendersternchen.

Text und Foto: Kurt Schnidrig