Die Sarazenen Saga

Hat die Bevölkerung im Saastal arabische Wurzeln? Stammen die „Saasini“ etwa gar von muslimischen Kämpfern ab? Im Jahr 2010 habe ich mich ausgiebig mit dieser hoch spannenden Frage wissenschaftlich befasst. Anschliessend habe ich darüber ein Musiktheater geschrieben. Mit rund siebzig Mitwirkenden feierte am 12. November 2010 meine „Sarazenen Saga“ im Theater La Poste in Visp die Premiere. In diesen Tagen erhält der Stoff neuen Auftrieb durch ein Buch des Saaser Juristen Dr. Raoul Imseng. Imsengs Buch trägt den Titel „Halbmond über der Rhone“. Zuerst also ein Blick ins neue Buch von Imseng, bevor ich auf meine eigene „Sarazenen Saga“ zu sprechen komme.

Halbmond über der Rhone. Dr. Raoul Imseng stützt sich in seinem Buch auf Indizien, welche die Wissenschaft lange beschäftigt haben. Als gesichert gilt, dass muslimische Eroberer im 10. Jahrhundert n. Chr. im Unterwallis waren, vorab in der Gegend um den Grossen Sankt Bernhard und in der Abtei Saint-Maurice, die sie geplündert hatten. Von da aus müssen die raubenden Horden wohl nach Graubünden weiter gezogen sein. Nun aber hören sich einige Saaser Orts- und Flurnamen verdächtig arabisch an. Könnte das arabische „All A’lin“ nicht zu Allalin geworden sein? All A’lin bedeutet „Höhen“, und das würde ja zweifellos zutreffen. Auch arabisch „Ma’Djabal“ (Wasserberg) als Ursprung für die heutige Bezeichnung Mischabel ist linguistisch gerade noch vertretbar. Eher zu einer Gedankenspielerei gerät die Sache mit der Schweinezucht, die im Saastal lange Zeit völlig fehlte. Oder auch die spezifische Form der Schafschlachtung. Wer ein neues Buch über ein altes Thema schreibt, der muss auch Eigenleistung bringen. Nun sind mir Menschen mit viel Fantasie äusserst sympathisch. Dr. Raoul Imseng lässt die muslimischen Eroberer nun aber sogar auf den Simplon los. Er stützt sich dabei auf einen Text des St. Galler Chronisten Ekkehard IV. Die Sarazenen hätten sich „in dem Tal von Fraxnith“ verschanzt, schreibt Ekkehard. „Fraxinodo“ wurde früher die Alp „Alpje“ bei Zwischbergen genannt. Dort auf dem Simplon – wie auch im Saastal und am Theodulpass – sollen die Sarazenen einerseits als Zöllner „gearbeitet“ haben. Andererseits – wohl in ihrer Freizeit – sollen Sie sich als Menschenjäger ein Zubrot verdient haben. Mit Schaudern ist in Imsengs Buch zu lesen, dass unsere Vorfahren auf muslimischen Märkten in Spanien zu Geld gemacht wurden. Imsengs These ist ein hypothetisches Konstrukt. Irgendwie logisch. Wissenschaftlich aber zu wenig erhärtet.

Was sagt die Wissenschaft? Vor zehn Jahren haben meine wissenschaftlichen Erkundungen das Folgende ergeben. Vor 1000 Jahren beherrschten die Araber weite Teile im Süden und Westen der Schweiz, einschliesslich des Passes über den Grossen Sankt Bernhard. Im Wallis gibt es historisch umstrittene Spuren einer zeitweiligen arabischen Besiedelung (z.B. Saas-Almagell). Dass Saas-Almagell auf eine arabische Ansiedlung des 10. Jahrhunderts zurückgeht, ist möglich, aber nicht mehr zu beweisen. Ligurer, Kelten, Römer, Alemannen und wohl auch Sarazenen bewohnten einst das Saastal. Als historisch gilt einzig: „936 überquerten die Sarazenen, aus Andalusien kommend, die Alpen, besetzten und plünderten den Bischofssitz von Chur und errichteten im Wallis mehrere Siedlungen.“ (Historisches Lexikon der Schweiz). Der Sprachforscher L.E. Iselin hatte erklärt: „Mag die romantische Behauptung von sarazenischen Ansiedlungen in dem Alpengebiete sich noch lange Zeit in der populären Reiseliteratur nach dem Gesetz der Trägheit erhalten, die gewissenhafte Geschichtskunde wird darin nichts anderes erkennen dürfen als eine täuschende Fata Morgana.“ Andere Historiker wälzten das Material erneut, aber die Hypothese war tatsächlich nicht zu halten. Mitte der 1970er Jahre zog der Saaser Dorfchronist Konrad Imseng einen Schlussstrich unter die Debatte: „Für die Abstammung der Saaser Bevölkerung von den Sarazenen fehlt jeder Beweis.“

Wie eine Legende entstand. Als Legende geistert die orientalische Abstammung der Walliser weiterhin durch die Welt. Legenden nehmen ihre eigenen Wege. In die Welt gesetzt hat die Legende von der arabischen Besiedelung des Wallis der Strassburger Gelehrte Christian Moritz Engelhardt (1775-1858), der das abgelegene Walliser Seitental mehrfach besuchte. Dabei stützte er sich auf historische Tatsachen, die auch heute noch unbestritten sind: Im zehnten Jahrhundert gelangten kleinere Gruppen von so genannten Sarazenen von der französischen Riviera kommend bis in die Alpen. Diese Besiedlung diente immer wieder dazu, gewisse Walliser Eigenheiten zu erklären: die Bewässerungsanlagen, die Gesichtszüge, die wilden Feste – und die Eringer Kuh, die aus Spanien oder Afrika stammen soll. Die Vermutungen von Engelhardt wurden vom Saaser Pfarrer Peter Joseph Ruppen aufgenommen, der 1851 eine Chronik des Saastals verfasste. Darin nahm er die Anwesenheit der Sarazenen, die er auch als Mauren, Mohren oder Ungläubige bezeichnete, als selbstverständlich an: „Diese wilden Horden besetzten auch das Tal Saas mit kriegerischer Macht … Ihr Hauptlager war in Almagell … Von diesen Arabern wird der Berg, über welchen der Pass ins (italienische) Anzascatal führte, Mohrenberg genannt.“ Ruppen bezeichnete diese Sarazenen als Herren, die die Talbevölkerung drangsalierten, sich allmählich mit ihr vermischten und schliesslich in ihr aufgingen. Ganz selbstverständlich warb später die Tourismus-Website von Saas-Fee mit den auswärtigen Vorfahren: „Das Saastal blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück. Kelten, Römer und Sarazenen bewohnten einst das Saastal … Im Jahr 939 fielen Sarazenen ins Wallis ein. Viele Orts- und Bergbezeichnungen sind in dieser Zeit entstanden und erinnern heute noch an diese Epoche.“ (WOZ vom 7.10.2004). Die von Saaser Tourismuskreisen liebend gerne weiter verbreitete Legende – mit einer Prise Wahrheit gewürzt – ist ein Steilpass für Romanciers und Theaterautoren.

Die Sarazenen Saga. Die Legende lebt weiter. Im Jahr 2010 schrieb ich ein Theaterstück darüber. Premiere feierte das Musical am 12. November 2010 im Theater La Poste in Visp. Mit etwas Fantasie lassen sich Spuren von Tausendundeinernacht auch heute noch in unseren Tälern finden. Da beginnt meine „Sarazenen Saga“. Zum Inhalt: Nachdem im Saastal ein arabisches Zeichen gefunden wurde, kündigt sich ein Investor an. Der clevere Wüstensohn verspricht den Einwohnern des Tales eine Milliarde Franken. Er hat von der arabischen Vergangenheit der Walliser Täler gehört und möchte diese für die Gäste aus dem Osten zu gefragten Tourismus-Destinationen aufrüsten. Als Gegenleistung verlangt er die Errichtung gigantischer Hotels, von Fitness-Palästen und heimeligen arabischen Dörfchen. Die Dorfbewohner sind zuerst fasziniert. Zum einen lockt die Milliarde. Zum andern lockt aber auch die märchenhafte Stimmung aus Tausendundeinernacht. Es melden sich aber auch Stimmen, die warnen. Die riesigen Bauten und Investitionen könnten das Landschaftsbild zerstören und den Charakter unserer Talschaften verfälschen. Der Tourismus Boom droht die einheimische Kultur zu verdrängen. Da stellt sich die Frage: Wie geht ein interkulturelles Zusammenleben? Die Menschen aus verschiedenen Kulturen müssen lernen, wie ein harmonisches Zusammenleben funktioniert.

In der Gegenwart angekommen. Mit der Thematik ist sowohl die Legende als auch mein Theaterstück in der Gegenwart und in der Aktualität angekommen. Parallelen drängen sich auf. Ein ägyptischer Investor verwandelt derzeit Andermatt in eine Tourismus-Destination. Er spaltet damit die Einheimischen in Befürworter und Gegner. Und er könnte sich durchaus vorstellen, auch noch an anderen Orten aktiv zu werden. „Wenn Andermatt mein einziges Projekt wäre, hätte ich den Sitz meiner Gesellschaft nicht hierher verlegt“, sagte Sawiri kürzlich vor den Medien. Im Musiktheater „Die Sarazenen Saga“ ist ihm ein Konkurrent lediglich zuvorgekommen.

Text und Fotos (aus der „Sarazenen Saga“): Kurt Schnidrig.