Hinterlässt Leuk Spuren?

Er ist der aktuelle Spycher Preisträger Leuk: Thomas Lehr. Nun überrascht er mit einer schlanken Novelle mit dem Titel „Frühling“. Und er hat sich selber neu erfunden.
(Foto: Kurt Schnidrig)

Der aktuelle Spycher Preisträger Leuk hat sich neu erfunden. „Meine ersten Romane waren Zweitausender, jetzt aber werde ich im Viertausender-Bereich bauen“, verriet mir Thomas Lehr anlässlich der Preisverleihung im Oktober 2018 in Leuk. Er spielte dabei auf die Bergwelt an, in Deutschland ragen die Berge kaum über 2000 Meter gen Himmel, hier im Wallis stehen die Viertausender gleich im Dutzend. „Es ist wie beim Bergsteigen“, ergänzte er augenzwinkernd, „auch das Schreiben lässt sich trainieren, man kann immer höher steigen. Es ist einfach ein besonderer Reiz, sich zu steigern, immer höher zu klettern. Diesem Reiz bin ich erlegen“. Das sprach mir der Schriftsteller im vergangenen Herbst ins Mikrofon. Thomas Lehr hat Wort gehalten. Nun ist es Frühling geworden, und er legt eine schlanke Novelle vor. „Frühling“ heisst sie. Und das Buch offenbart einen Autor, der sich seit vergangenem Herbst ganz neu erfunden hat. Wohl auch mit beeinflusst durch seinen Aufenthalt in Leuk und in den Walliser Bergen.

Alles neu macht der „Frühling“. Den Titel „Frühling“ trägt das neue Prosawerk des Spycher Preisträgers Leuk. Es handelt sich dabei um eine Novelle von gerade mal 140 Seiten. Es ist dies eine schlanke Novelle aus der Feder eines Romanautors, der bisher unendlich lange Romane veröffentlichte. Auch formal hat Thomas Lehr ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen. In seinen früheren Romanen – etwa in „Nabokovs Katze“ – ist noch alles beinahe pedantisch strukturiert, da finden sich perfekt ausformulierte, endlos lange Schachtelsätze. Und jetzt, nach einer „Läuterung“ von knapp fünf Monaten, dieses schmale Bändchen, diese Novelle, die schon mal von der Form her einen Neubeginn im literarischen Schaffen des Thomas Lehr einläutet. Eine Novelle erzählt gemäss Definition „eine unerhörte Begebenheit“. Entsprechend ist auch die Sprache, sie ist ungewohnt und aussergewöhnlich. Mit einer höchst eigenwilligen Zeichensetzung zertrümmert der Schriftsteller seine vormals schön gebauten Sätze. Er wählt die Form des Monologs. Es ist dies der Monolog eines Sterbenden, der nicht mehr fähig ist, gut gebaute Sätze zu formulieren. Es wird deutlich, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich beschreitet Thomas Lehr neue Wege.

Eine Pervertierung des Frühlings. Thomas Lehrs Novelle trägt zwar den Titel „Frühling“. Mit dem Frühling verbinden wir selbstredend Assoziationen wie „Aufbruch“, „Neuanfang“ und „Erwachen“ sowohl der Natur als auch des menschlichen Lebens. In der Novelle „Frühling“ pervertiert der Autor diese Jahreszeit ins Gegenteil. Das Buch handelt vom Tod. Der Autor rapportiert den Monolog eines Sterbenden. Als Leser*innen erleben wir die letzten 39 Sekunden eines Mannes, der dem selbst gewählten Tod entgegen geht. Der Sterbende hatte ein Leben geführt, das gezeichnet war von physischen und psychischen Gebrechen. Der Sterbende hat auch noch Schuld auf sich geladen. So gesehen ist der Tod für ihn eine Erlösung. Der Sterbende ist davon überzeugt, dass nur der Tod alle physischen und psychischen Gebrechen heilen kann. Aus seiner Sicht ist der Tod ein Eintritts-Ticket ins Paradies.

Der Tod als Metapher für den Frühling. Der Tod, der Erlösung verspricht von all den irdischen Leiden, der Tod, der einen Ausweg offenhält aus dem irdischen Jammertal hinein ins Paradies – so gesehen ist der Tod ein Abbild des Frühlings. So wie der Frühling, bedeutet auch der Tod das Ende von Kälte, das Ende eines langen und eisigen Winters, sowohl in der Natur als auch im menschlichen Leben.

Ist im menschlichen Sterben auch ein Hauch von Frühling verborgen? Der sterbende Protagonist in Thomas Lehrs Novelle „Frühling“ ist davon überzeugt. (Foto: Kurt Schnidrig).

Sterben im Frühling. Die Psychologie lehrt uns, dass besonders auch im Frühling viele Menschen den Freitod wählen. Warum die hohe Suizidrate in dieser doch so blühenden Jahreszeit? Die Psychiater warten mit einer einleuchtenden Erklärung auf: Wenn es dem Menschen nicht gut geht, wenn er sich schlecht fühlt, dann erlebt er die aufblühende Welt im Frühling als einen riesigen Gegensatz, als einen schmerzhaften Kontrast, der ihn innerlich zerreisst. In Thomas Lehrs Novelle stösst der Sterbende kurz vor dem Tod eine letzte, zerstückelte Botschaft hervor: „…mein Kopf ist. Nicht mehr, ohne Flügel heben wir. uns hinauf mein Freund tod denn: es ist. Frühling.“

Text und Fotos: Kurt Schnidrig