Wege in die Zukunft

Die Wahlzürcherin Sibylle Berg hat ein Endzeit-Epos geschrieben. Wo geht’s lang zu unserer Zukunft?
(Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Die deutsche Star-Autorin Sibylle Berg wollte immer in der Schweiz leben. Es sind die Menschen in der Schweiz, ihre Zurückhaltung und ihre Ruhe, die sie beeindrucken. In einem Crashkurs hat Sibylle Berg auch Walliserdeutsch gelernt, und sie hat mit der Sängerin Sina zusammengelebt. Sina und Sibylle Berg, das ungleiche Paar, schreibt sich regelmässig, hin und wieder sieht man sich. Die Berg hat auch schon Texte geschrieben für Sinas Lieder. Zurzeit allerdings geht das wohl nicht. Zu gross ist die feministische Wut der Sibylle Berg. Wer ihr neustes Buch liest, der braucht danach Erholung. Denn was die Berg uns Lesern zumutet, hat es in sich. Es sind 600 Seiten feministische Wut.

600 Seiten Wut. Frauen, die noch rhetorische Munition brauchen für den Frauenstreik vom kommenden Freitag, die können in Sibylle Bergs Roman „GRM – Brainfuck“ aus dem Vollen schöpfen. Für ihren Roman habe sie ein Jahr lang mit Wissenschaftlern gesprochen und in England recherchiert, sagt Sibylle Berg. Und nun versucht sie die Frage zu beantworten, welchen Weg unsere Gesellschaft einschlagen werde. Die Antworten, die sie gefunden hat, sind verstörend. Ob sie auch realistisch sind?

Ein Höllenritt durch eine Endzeitwelt. Mit ihrem Roman läutet die Berg quasi die Endzeit ein. Ihre Geschichte spielt in einem hoffnungslosen England der nahen Zukunft: Der Brexit ist Geschichte, die politischen und sozialen Missstände kaum mehr zu überbieten. Die Regierung ist zu einem reinen Überwachungsstaat verkommen. Der Staat kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt. Er tut dies mittels in die Hand implantierter Chips. Die Autorin sieht uns alle als Sklaven des Internets und der sozialen Medien. In ihrem Buch verbringen Menschen bis zu acht Stunden täglich mit dem Starren auf „Endgeräte“, wie sie die digitalen Medien nennt.

Es spricht die Autorin. Bereits nach ein paar Seiten hat man als Leser erkannt: Hier spricht ausschliesslich die Autorin. Sie bemüht keine literarischen Stilmittel, ihre feministische Wut muss raus, und das macht sie ganz persönlich und im eigenen Namen. Diese sogenannt „unipolare Erzählperspektive“ ist in der Literatur eher selten. Und sie nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie den Überwachungsstaat an den Pranger stellt: „In der Schweiz haben wir – also die Bevölkerung – beschlossen, dass der Staat Trojaner auf unserem Computer installieren darf, die den Mailverkehr überwachen können. Es denkt sich ja keiner was dabei. Weil es immer diesen komischen Satz gibt: Ich habe nichts weiter zu verbergen“, schreibt sie.

Das Internet ist zu einem Monster mutiert. Die Autorin bezeichnet ihre Geschichte nicht etwa als „Roman“, sondern als einen „Brainfuck“. Ein Brainfuck ist laut Definition eine esoterische Programmiersprache. Tatsächlich ist das Buch zuerst einmal ein Aufschrei gegen die Digitalisierung. Sibylle Berg zeigt uns eine Welt, in der sich der Mensch selbst abgeschafft hat. Er hat sich selbst abgeschafft aufgrund der Digitalisierung, die alles kann, was wir Menschen ja eigentlich auch machen könnten, nur macht dies alles die Digitalisierung nun ohne uns. So wird es möglich werden, dass wir in Zukunft ein manipulatives Überwachungssystem erhalten werden nach chinesischem Muster. Du und ich, wir alle bekommen Punkte. Es gibt Punkte, wenn man sich gesund ernährt, wenn man genug Sport treibt und sogar, wenn man zu allen nett ist. All dies passiert im Internet, diesem „Fucking Netz“, wie sich die Autorin ausdrückt.

Eine Story am Rande. Ach ja, das Buch von Sibylle Berg hat ja auch noch eine Story, die ob all dem Wutgeheul jedoch an den Rand gedrückt wird. Die Story spielt in der britischen Kleinstadt Rochdale. Da schliessen sich vier Jugendliche zusammen. Sie tun dies, weil sie selber nicht mehr wissen, was gut ist und was schlecht. So geben sich die vier jungen Leute eigene Gesetze. Eines davon ist besonders verwerflich: Sie wollen sich an allen rächen, die ihnen weh getan haben. Die vier Jugendlichen – sie heissen Don, Peter, Hannah und Karen – gehören der sogenannten Generation Z an.

Die Generation Z. Der Buchstabe Z bildet das Ende des Alphabets. Und so stehen auch die vier jungen Leute für eine Generation, die verloren ist, eine Generation, die von ihren Eltern und überhaupt von allen guten Geistern verlassen worden ist. Die Vier hören Musik, die „Grime“ heisst. Die Vier leben in einer digitalisierten, privatisierten und vollzeitüberwachten Welt. In dieser Welt ist die Arbeit längst an Roboter delegiert und an KI, an die Künstliche Intelligenz.

Extrem formulierte Einsichten. Mit einer ironischen und ganz eigenen Sprache zerstört Sibylle Berg das flüssige Lesen ihres Buches. Mit unvollständigen Hauptsätzen und mit einem Hin- und Herspringen zwischen den Zeilen lenkt die Autorin uns Leser, sie manipuliert auch uns, dich als Leserin, mich als Leser.

Man fühlt sich „brainfucked“. Auch wenn der „Brainfuck“ virtuos komponiert ist, sehnt man sich nach aufbauenden und konstruktiven Lösungsvorschlägen. Dieses ewige Aufmurksen, diese blinde Wut gegen alles! Nach der Lektüre ist einem kalt, man sehnt sich nach einer heissen Schokolade oder gar nach einem harmlosen Rosamunde Pilcher – Filmchen. Nach 640 Seiten kennt man das Spiel, das Sibylle Berg da mit uns treibt, der Text dreht im Leerlauf und die immer wieder zelebrierte Endzeitstimmung nervt, weil sie zur Normalität wird. Man ist versucht, korrigierend einzugreifen: Bestimmt führen mehrere Wege in die Zukunft, nicht bloss dieser Höllenritt ins Verderben.

Text und Foto (Symbolbild): Kurt Schnidrig