Warten im Stau

Nun warten und stauen sie wieder, die Ferienhungrigen. (Foto: Kurt Schnidrig)

Sommer, Sonne, Stau und Warten. Jedes Jahr das gleiche Bild. Vor den Tunnelportalen, auf den Alpenstrassen, an den Landesgrenzen: Stauen und Warten. Tausende reihen sich in Kolonnen ein und frönen einem mysteriösen Ritus, einem seltsamen sozialen Erlebnis, das da heisst: Warten in der Kolonne, Stauen in der Blechlawine, Schlangestehen allüberall.

Warten ist das halbe Leben. Wobei gesagt werden muss: Den grössten Teil unseres Lebens verbringen wir ja eh schon mit Warten. Wir warten auf den Partner, auf das Nachtessen, auf das Ende der Hitze. Wir warten auf eine gute Idee, auf den Zahltag und darauf, dass etwas Spannendes geschieht. Das Warten kann anöden und langweilen, das Warten kann aber auch neugierig machen und Vorfreude wecken. Über „Die Kunst des Wartens“ haben die beiden Autorinnen Brigitte Kölle und Claudia Peppel soeben ein Buch geschrieben (Wagenbach Verlag 2019). Darin finden sich Texte von Kafka über Tucholsky bis zu Ingeborg Bachmann. Die Texte belegen und zeigen, wie das Warten einen grossen Teil unseres Lebens bestimmt.

Warten im Speisehaus. Wer hat nicht auch schon mit knurrendem Magen im Restaurant was Essbares herbeigesehnt? Warten kann aber auch schön sein. Warum ist es schön, zu warten? Der Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky (1890 – 1935) hat darüber ein Gedicht geschrieben:

Warum ist es so schön zu warten? Die Leute gehen und kommen und schwatzen, / Die Trinker schlürfen, die Esser schmatzen. / Und du weisst, sie kommt. / Jeden Augenblick fliegt die Glastür auf, / fliegt wieder zurück. / Fremde Menschen gehen aus und ein. / Wann wird sie es sein? / Und nachdem du dich noch ein bisschen gedehnt hast, / tritt die ein, nach der du dich so gesehnt hast.

Warten im Speisehaus. Warum ist es schön zu warten? (Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Lebenslanges Warten. In der deutschen Literaturgeschichte findet sich eine berühmte Parabel über das Warten. Die Parabel heisst „Vor dem Gesetz“ und geschrieben hat sie Franz Kafka (1883-1924). Die Parabel handelt von dem Versuch eines Mannes vom Lande, in das „Gesetz“ zu gelangen. Der Mann erfährt von einem Türsteher, der davor steht, dass es möglich sei, aber nicht jetzt. Und so wartet der Mann vom Lande, dass ihn der Türsteher reinlassen möge. Er wartet „Tage und Jahre“, er wartet sein ganzes Leben lang. Er versucht, den Türsteher zu bestechen – vergebens. Er bittet sogar die Flöhe im Pelzkragen des Türstehers, ihm zu helfen – vergebens. Der Mann muss warten. Er wartet sein ganzes Leben lang. Kurz bevor der Mann vom Lande stirbt, fragt er den Türsteher, warum in all den Jahren niemand ausser ihm Einlass begehrt habe. Der Türsteher antwortet, dieser Eingang sei nur für ihn bestimmt gewesen, er werde ihn jetzt schliessen.

Viele warten ein Leben lang. Nur wenige finden den Schlüssel, der zum Erfolg führt.
(Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Warten, um sich selbst zu finden. Oftmals schon ist versucht worden, die Parabel „Vor dem Gesetz“ zu interpretieren. „Das Gesetz“ kann als Lebensgesetz der persönlichen Selbstverwirklichung oder als göttliches Gesetz des Daseinssinns ausgelegt werden. Dem Mann vom Lande fehlt der Mut, und es mangelt ihm auch an einer griffigen Strategie. Seine lächerlichen Bestechungsversuche offenbaren seine Ideenlosigkeit. Er fürchtet sich allzu sehr vor Autoritäten, wie sie der Türsteher verkörpert. So verpasst er die persönliche Selbstverwirklichung, und es misslingt ihm auch die Suche nach dem Sinn des Lebens.

Vom Sinn des Wartens. Zeit ist Geld. Wirklich? Am Ende des Lebens haben wir nur acht Jahre mit Arbeiten verbracht. Sieben Jahre haben wir auf den Schlaf gewartet, fünf Jahre haben wir mit Essen verbracht, zwei Wochen mit Küssen und zwei Tage mit Warten an der Supermarktkasse. Wer warten kann, der kann auch geniessen. Es gibt Slow Food, Slow Sex, Slow Ferien. Schlendern und Flanieren. Den Wolken nachschauen. In den Sonnenuntergang reiten. Sich Zeit nehmen, wieder mal zu lächeln, innezuhalten und das Leben mit allen Sinnen auszukosten.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig