Märchenhafter Mond

Ob als Sichel oder als Scheibe – der Mond ist Zeichen und Katalysator unserer kosmischen Fantasien. (Foto: Kurt Schnidrig)

Ist die Mondlandung in Hollywood fotografiert worden? Eine polemische Verschwörungstheorie geht davon aus. Der 1948 geborene deutsche Schriftsteller und Übersetzer Joachim Kalka vermutet, dass diese Theorie eine Reaktion sei auf die wissenschaftliche Ernüchterung, welche die erste Mondlandung vor fünfzig Jahren ausgelöst habe. Der Mond solle doch bitte schön seine ganze Kraft als Zeichen und als Katalysator unserer kosmischen Fantasien behalten. Kalka entwirft eine brillante und höchst anregende Motivgeschichte des Mondes in der Literatur (Joachim Kalka: Der Mond. Berenberg Verlag). Der Mond dient in der Literatur als ein vielseitiger Stimmungsmacher.

Der Mond ist wandelbar wie das Herz des Menschen. Der Mond zeigt sich nicht bloss in der abgerundeten Form, sondern auch als elegante, schmale Sichel. Diese Wechselhaftigkeit des Mondes manifestiert sich auch in der Literatur. Da ist einerseits die Mondanbetung der Romantiker. Der Mond kann aber auch anders. In Morgensterns „Galgenliedern“ erscheint der Mond als eine „schweflige Hyäne“. Auch die todesgleiche Stille des Mondes habe zahllose Dichter inspiriert, schreibt Joachim Kalka. Als „kosmische Leiche“ umkreise er seit Urzeiten die Erde. Die Wandelbarkeit und Veränderbarkeit des Mondes legt den Vergleich mit dem menschlichen Herzen nahe, das als Hort der launischen und wechselhaften Liebe gilt.

The Moon Represents My Heart. Mit dem Lied „Der Mond widerspiegelt mein Herz“ schaffte die chinesische Sängerin Teresa Teng in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts den internationalen Durchbruch. Sie trat 1989 in Paris auf, als die Proteste auf dem Tian’anmen-Platz begannen und unterstützte die protestierenden Studenten. Von ihr stammen die Zeilen: You ask me how deep my love for you is, / How much I really love you…/ My affection does not waver, / My love will not change / The moon represents my heart. Die erotische Strahlkraft des Mondes ist tatsächlich ein häufig bemühtes Motiv. Mit Wilhelm Raabes Erzählung „Deutscher Mondschein“ taucht die Frage auf, weshalb denn der Mond im deutschen Sprachgebrauch maskulin sei. In deutschen Landen geht dem Mond tatsächlich das weibliche Wesen der Luna ab, das in vielen anderen Sprachen zur Geltung kommt, zum Beispiel auch im Französischen „la lune“. In der deutschen Literatur hat der Mond überdies oftmals sogar eine lokale Prägung. Allein bei Bertolt Brecht findet sich der „Mond über Soho“, der „Bilbao-Mond“ oder der „Mond von Alabama“.

Der Mond ist ein Dieb. Mit dem Mond wird häufig das Motiv des Diebstahls verbunden. Denn schliesslich „nimmt“ der Mond sein Licht von der Sonne, und selber ist er bloss ein von der Erde abgesprengter Brocken. Das Motiv des Mondes als ein Dieb inszeniert Vladimir Nabokov in seinem Werk „Pale Fire“, zu deutsch „Fahles Licht“. Der Mond erscheint hier als ein trügerischer Trabant. Das fahle Licht des Mondes verbindet sich häufig mit dem Unheimlichen. Viel Spukhaft-Mysteriöses ereignet sich in Vollmondnächten. Der wandelbare Mond mutiert Menschen zu Werwölfen. Im christlichen Sinn steht der Mond auch für die Vergänglichkeit allen Lebens.

Fantastische Mondreisen. Längst bevor die Amerikaner den Plan fassten, mit ihrer Apollo-Mission den Mond zu erobern, waren die Literaten bereits da oben – die Helden in ihren fantastischen Geschichten zumindest. Baron von Münchhausen klettert auf einer ausgewachsenen Bohnenranke zum Mond. Bei Jules Verne schiessen Kanonen unerschrockene Abenteurer hinauf auf den Mond. Das Comics-Hündchen Snoopy reist gar auf seiner eigenen Hundehütte zum Mond. „Peterchens Mondfahrt“ ist ein Märchen von Gerd Bassewitz. Das Märchen erzählt von den Abenteuern eines Maikäfers namens Herr Sumsemann. Maikäfer Sumsemann fliegt zusammen mit den Menschenkindern Peter und Anneliese zum Mond. Dort will der Maikäfer Sumsemann sein verlorengegangenes sechstes Beinchen zurückholen.

Ein Land ohne Mond. Was wäre eine Welt ohne Mond? In den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm erzählt das Märchen „Der Mond“ von vier Burschen, die aus einem Land stammen, in dem kein Mond scheint. Nachts herrscht tiefe Dunkelheit. Die Burschen begeben sich auf Wanderschaft. Sie gelangen in ein Land, in dem eine leuchtende Kugel auf einem Baum hängt. Die Burschen beschliessen, den Mond zu stehlen und nehmen ihn mit in ihr eigenes Land zurück. Dort hängen sie ihn auch an einen Baum und verlangen von der Gemeinde ein entsprechendes Entgelt. Doch dann werden die Burschen alt, und als das letzte Stündlein naht, beschliessen sie, dass ein jeder von ihnen einen Viertel des Mondes in sein Grab mitnehmen solle. So gelangt der Mond in die Unterwelt. Dort weckt er mit seinem Licht die Toten auf, die sich nun darob laut amüsieren. Als der heilige Petrus den Lärm der Toten hört, ahnt er Schlimmes, er befürchtet einen Angriff aus dem Totenreich und ruft die himmlischen Heerscharen zusammen. Als der Angriff der Toten aber ausbleibt, erkennt Petrus seinen Irrtum. Petrus begibt sich ins Totenreich und stellt die Totenruhe wieder her. Den Mond aber nimmt er mit in den Himmel, wo er ihn aufhängt und wo er noch heute hängt.

Die Mondlandungen wirken desillusionisierend. Die Geschichten von märchenhaften Mondreisen und Utopien von einem Leben auf dem Mond haben seitdem so ziemlich ausgedient. Entgegen aller Fakten, also kontrafaktisch, ist den Fabulierern nun die Fantasie ausgegangen. Verständlich. Denn: Wer möchte schon auf einer Bohnenranke zum Mond hinaufklettern, nur um festzustellen, dass dort ausrangierte Mondlandefähren vor sich hin rosten?

Text und Foto: Kurt Schnidrig