Auf den Spuren eines Krimis

In netter Gesellschaft in einer Gartenwirtschaft nahe dem Bundeshaus in Bern. Es war so heiss, dass Fiktion und Realität durcheinandergerieten.

Der Tote vom Zibelemärit. Der Krimi von Paul Lascaux liess mir keine Ruhe. Am Morgen hatte ich den Kriminalroman im Radiostudio vorgestellt. Die rro-Moderatorin Nina hatte den Hörern unseres Lokalradios vorgeschlagen, bei den herrschenden sehr, sehr heissen 37 Grad ein „schattiges Plätzchen“ aufzusuchen und „das spannende Buch zu lesen“ das ich als rro-Literaturexperte dann vorstellen durfte. Und nun sass ich plötzlich selber am Schauplatz dieses spannenden Buches, an einem schattigen Plätzchen in der Nähe des Bundeshauses. Doch halt! Hatten nicht soeben die drei Grazien aus dem Krimi am Tischchen hinter mir Platz genommen (Bild oben)? Und, zum Teufel! War es den unglaublich heissen 37 Grad Hitze zuzuschreiben? Oder war es Realität, was ich soeben mitbekommen hatte? Die drei Grazien am Tischchen hinter mir sprachen … vom Toten. Vom Toten vom Zibelemärit. Das war nun kein Krimi mehr. Das war schreckliche Realität. Und ich war mitten drin…

Das Geheimnis der drei Grazien. Sollte ich die Detektei Müller & Himmel aufsuchen, um dort mitzuteilen, was ich soeben gehört hatte? Sie müssen wissen, lieber Leser, der Privatdetektiv Heinrich Müller ermittelt im Fall des Toten vom Zibelemärit. Unterstützung erhält der Privatdetektiv durch eine attraktive Partnerin, sie heisst Nicole Himmel. Und – pssst! Die drei Grazien, die jetzt da am Tischchen hinter mir sitzen, die haben gleich im darüberliegenden Stockwerk eine Wohnung bezogen. Höchst verdächtig! Schnell im Buch von Paul Lascaux nachgeschaut – aha! Da sind sie, die Namen der drei Grazien, immer noch jugendlich ungestüm mit ihren 22/23 Jahren: Melinda Käsbleich, sie studiert Design; Phoebe Helbling, sie studiert Wirtschaftswissenschaften, möchte aber lieber „etwas mit Film“ machen; Gwendolin Rauch, sie besucht Biologievorlesungen. Wetten, die haben was zu tun mit dem Toten vom Zibelemärit? Ich riskiere einen Blick über die Schulter. Die sind weg, alle drei! Irgendwas von „Berner Märit“ hatte ich vorhin noch aufgeschnappt. Nichts wie hin! Ich muss herausbekommen, welche Rolle die drei Grazien, Melinda, Phoebe und Gwendolin in dieser Geschichte spielen.

Die drei Grazien ermitteln am Schauplatz. Was wissen sie über den Toten vom Zibelemärit? (Fotos: Kurt Schnidrig)

Tödliche Vergangenheit. Schnell mal im Buch geblättert. Aufdatieren! Was wir wissen ist das Folgende: Bei einem Fest wurde Feuerwerk abgebrannt. Ein Mann wurde durch einen Böller schwer verletzt, und er stirbt. Die Berner Polizei geht von einem Unfall aus. Die Familie des Toten glaubt aber nicht an die Unfallthese der Polizei. Sie engagiert das Detektivbüro Müller & Himmel. Und tatsächlich finden die Detektive heraus, dass der Böller beim Feuerwerk manipuliert worden ist. Als dann die Detektive noch auf die Tagebücher des Toten stossen, da ist ihnen nach der Lektüre der Aufzeichnungen des Verstorbenen klar, dass der Tote nicht der fürsorgliche Vater gewesen war, wie ihn seine Familie immer erlebt hatte. Der Tote war vor Jahren in der Punk-Szene aktiv gewesen. Und seine Vorgeschichte reicht noch viel tiefer in die Vergangenheit zurück, genau genommen bis ins Mittelalter.

Die Anfänge des Berner Zibelemärit reichen bis ins Mittelalter zurück. Aber was hatte „Der Tote vom Zibelemärit“ mit dem mittelalterlichen Markttreiben zu tun?
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Eine falsche Fährte. Was hat der Tote vom Zibelemärit mit dem Zibelemärit zu tun? Ich lese im Krimi von Paul Lascaux: „Die Freiburger sollen ja damals beim verheerenden Stadtbrand 1405 den Bernern zu Hilfe gekommen sein. Gut, die Pfaffendirnen liessen sie verbrennen, die alten Katholiken. Wertvolles Gut kam vor wertlosem Leben. Deshalb soll man den Freiburgern auch ein Marktrecht gegeben haben. Zwiebeln! Beide Städte waren ja von den Zähringern gegründet worden, Freiburg 1157 von Berchtold IV., Bern 1191 von Berchtold V. Beide Orte gehörten zum Landstrich Uechtland. Die Berner haben sich einfach ein bisschen besser entwickelt, jedenfalls bis zur Katastrophe, die beinahe die ganze Stadt in Schutt und Asche legte und dazu führte, dass abgesehen von den Dachstühlen nur noch in Sandstein gebaut werden durfte…“ (Seite 106). Nein! Nein! Und nochmals Nein! Das ist eine falsche Fährte, lieber Leser! Lass dir gesagt sein: Das dunkle Mittelalter war einfach nur schrecklich! Mit unserem Kriminalfall, also mit dem Toten vom Zibelemärit, hat das Mittelalter null und nichts zu tun. Und warum erzählt uns der Autor überhaupt davon? Eben, weil das eine falsche Fährte ist. Und weil jeder gute Krimi falsche Fährten hat. Punkt. Ja gut, vielleicht, weil mit dem Mittelalter auch noch ein Schuss Erotik in den Krimi hineinkommt. Ich denke jetzt an die musizierenden Pfaffendirnen und so… (vgl. Bild oben).

Die drei Grazien bringen uns Leser zurück auf die richtige Spur. Auf dem Berner Märit von heute wird klar: Die Lösung des Kriminalfalls ist in den späten 70er-Jahren zu suchen.
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Eine kurze Reise in die Zeit von Punk und Anarchie. Damit wir als Leser wieder auf die richtige Fährte kommen, also gewissermassen „den richtigen Braten riechen“, führen uns die drei Grazien zurück in die Gegenwart. Auf dem heutigen Berner Märit erzählt uns Phoebe das Folgende: „Hätte nicht gedacht, dass 1979 so viel zu bieten hat, vor allem Ereignisse, die uns heute noch beschäftigen. Aber ich will euch nicht mit Wikipedia-Einträgen langweilen, das kann jeder selbst nachlesen (…) Aber es kam damals zu einem betrüblichen Zwischenfall. Beim Aufräumen wurde unweit des Bundesplatzes ein Mann aufgefunden, der seinen Rausch auszuschlafen schien. Der Reinigungsmannschaft gelang es jedoch nicht, ihn zu wecken, und so alarmierte sie den Rettungsdienst. Die aufgebotenen Sanitäter konnten jedoch nur noch den Tod des Mannes feststellen. Nach ersten Erkenntnissen der Polizei war der Mann an Konfetti erstickt.“ Gwendolin findet auch noch den Namen des Mannes, der damals an Konfettis erstickt ist. Er hiess Stephan Bohrer und war damals 22 Jahre alt. Und ganz wichtig: Stephan „Ugly“ Bohrer gehörte der Punkszene an. Und ja, auch der „Tote von Zibelemärit“ soll ein Doppelleben als Punk geführt haben.

Und ja, da steht auch so einer aus der Punkszene neben Gwendolin… Taucht da ein Akteur aus der Vergangenheit auf? (Fotos: Kurt Schnidrig)

Wer findet des Rätsels Lösung? Während ich hinter einem Marktstand stehe und alles genau beobachte, taucht plötzlich ein Punk auf. Er stellt sich neben die Grazie Gwendolin. Was weiss die Punkszene über den „Toten vom Zibelemärit“? Taucht da ein Akteur aus der Vergangenheit auf? Und gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Toten, dem Mann, der durch einen Böller getötet wurde und dem Punk, der im Konfettiregen erstickt ist?

Plötzlich stehe ich allein vor einem Stand am Berner Märit. Wo sind die Grazien? Wo ist der Punk? Und was ist mit dem „Toten vom Zibelemärit“?

Alles nur Hitze-Fantasien? Ich stehe vor einem ganz gewöhnlichen Stand mitten im Berner Märit. Das Thermometer zeigt immer noch 37 Grad. Es ist sehr, sehr heiss. Wo sind die Grazien hingekommen? Wo ist der Punk, der als Akteur aus der Vergangenheit auftauchte? Nur den Krimi, den gibt es wirklich, weil den halte ich ganz fest in meiner Hand, und darin lese ich: „Der ursprüngliche Markttag hatte sich überlebt. Inzwischen waren dieselben Stände mit denselben billigen Alltagsgegenständen bestückt wie an jeder Hundsverlochete“ (Seite 107).

Und dann kam er. „Er hatte sich mit dem Notwendigen eingedeckt. Zum Abrunden musste ein Zibelechueche her, das Pflichtgericht an diesem Tag. Natürlich wusste er, dass er als Punk für dumme und teilweise aggressive Sprüche sorgte. Wieder bekam er eine Ladung Konfetti ab. Er atmete tief ein. Er krümmte sich, hustete, kotzte beinahe, richtete sich auf, schloss die tränenden Augen, öffnete den nach Luft schnappenden Mund… Als Stephan „Ugly“ Bohrer zusammensank, erinnerte er sich schon nicht mehr an seinen Namen. Er lag atemlos am Boden, im Trubel lange Zeit von niemandem beachtet, und als der erste an seiner Lederjacke zog und ihn wachrütteln wollte, war der letzte Akkord bereits gespielt.“ (Seite 108).

Ich lege mit ernstem Gesicht den Krimi beiseite. War alles nur der Hitze geschuldet? Immerhin, die Grazien am Tischchen hinter mir, die sind echt und jetzt am Telefon. Sie sagen allen, wer es war, und warum er sterben musste.
Er, der Tote vom Zibelemärit.

Hier können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, den Beitrag zum Krimi auf rro hören.

Text und alle Fotos (Symbolbilder): Kurt Schnidrig