Miggi erzählt aus alter Zeit

Sein Fotogeschäft an der Briger Bahnhofstrasse gibt es nicht mehr. Jetzt schreibt Michael Schmidt für grosse und kleine Kinder. (Foto: Kurt Schnidrig)

Miggi erfindet Geschichten. Miggi knipste früher in seinem Fotogeschäft Bilder aus dem wahren Leben. Jetzt entspringen die Bilder seiner eigenen Phantasie. Es sind Geschichten für grosse und kleine Kinder. Und es sind vor allem Geschichten aus alter Zeit. Es handelt sich bei Miggis Geschichten um Märchen und Sagen, manchmal ist die Grenze zwischen Fiktion und Realität auch fliessend, so wie bei seiner neusten Erzählung „Ds beesch Mannji“. Der Protagonist in dieser Geschichte lebte und arbeitete in Heidelberg und Wien, bekannt wurde er aber als Kurator am Metropolitan Museum in New York. Der bekennende Nihilist ist in Miggis Geschichte kurzerhand zum Bischof befördert worden.

Am Anfang war die Kassette. Persönlich kenne ich Michael Schmidt noch aus jener Zeit, als man im Fotogeschäft 12er-, 24er- oder 36er-Filme kaufte, die man dann sorgfältig in den Fotoapparat einlegte und nach dem „Foto-Shooting“ wieder im Fotogeschäft zum Entwickeln abgab. Es war dies auch die Zeit, als die Stars der Schweizer Kinderliteratur wie Trudi Gerster oder Jörg Schneider ihre Tonkassetten mit Kindergeschichten aufnahmen und tausendfach vervielfältigten, damit kleine und grosse Kinder zu Hause die heiss begehrten Kassetten im Recorder immer und immer wieder abspielen konnten bis die Ohren glühten. Im Fotogeschäft von Michael Schmidt liefen die Kassetten, und die Stimmen der Märchenerzähler beeindruckten und berührten den kinderliebenden Michael zutiefst. So tief, dass er seinen Vornamen populär und leicht einprägsam zu „Miggi“ abänderte.

Von der Kassette zum Fotobuch. Michael Schmidt – wir dürfen ihn fortan Miggi nennen – gab sich schon bald nicht mehr damit zufrieden, in seinem Geschäft die Kassetten der Mundarterzähler in Endlosschlaufe abzuspielen. Während er auf Kunden wartete, vertrieb er sich die Zeit mit der Niederschrift der Märchen, die ihm seine üppig blühende Phantasie in die Schreibmaschine diktierte. Ausschliesslich in die Schreibmaschine. Ein Computer kam ihm sein Leben lang nicht ins Haus, auch heute noch sind seine Manuskripte fein säuberlich auf Maschine getippt und nicht lieblos in den PC gehauen, wie dies mittlerweile wohl alle seine Zeitgenossen tun. In seinem Fotogeschäft produzierte und kopierte er denn auch seine erste Märchenkassette. „Die ging weg wie warme Semmeln“, erinnert sich Miggi heute. Gut erinnere ich mich an seine Prinzessin Semiramis, die ihm als Autor gehörig den Kopf verdrehte, und die mir als eine seiner Protagonistinnen aus den 1990er-Jahren in Erinnerung geblieben ist. Mehr Farbe ins Leben! Das wohl mag ein Motto für sein Schreiben gewesen sein. Immer wieder flüchtete er aus dem Fotolabor ins Poetenstübchen und setzte darin seine Visionen von einer besseren und liebevolleren Welt um. Und wiederum sollten die grossen und kleinen Kinder davon profitieren: Zusammen mit dem Fotografen Alfons Jordan produzierte Michael Schmidt ein erstes Fotobüchlein.

Schreiben gegen den grauen Alltag. Wenn ich meine Ferienfotos in Miggis Geschäft zum Entwickeln brachte, bat er mich manchmal darum, seine Geschichten „zu lesen“. Was Miggi aber von mir in Wirklichkeit erwartete, das war nicht bloss die Korrektur einiger Tippfehler, sondern vor allem interessierte ihn, ob die Geschichte „rüberkomme“ und ob es eine gute Geschichte sei. Bestens kann ich mich an „Das zerstrittene Dorf“ erinnern. In dieser Geschichte erzählt Miggi von einem Mädchen, das in einer Welt lebte, die sich ausschliesslich in grauer Farbe präsentierte. Das Mädchen verfügte jedoch über eine erstaunliche und wunderbare Fähigkeit: Immer, wenn es Blumen pflückte, verloren diese ihre graue Farbe und erstrahlten alsdann in grandiosen Farben. Die Mitmenschen glaubten deswegen, das Mädchen sei verhext, und sie sperrten es in einen tiefen und dunklen Keller ein. Eine Elfe jedoch erlöste das Mädchen aus dem finsteren Verliess und brachte den Menschen mit dem Mädchen auch die Farbe und die Phantasie zurück.

„Aus alten Zeiten“. Im November des vergangenen Jahres schlug eine weitere Sternstunde für den Märchendichter Miggi. Er durfte anlässlich von BergBuchBrig einige seiner Geschichten von einer Schauspielerin vorlesen lassen. „Aus alten Zeiten“ so möchte Miggi seine Geschichten übertitelt wissen. Wenn er auftritt, dann hat Miggi meistens sieben Geschichten mit im Gepäck. „Sieben – die heilige Zahl passt doch bestens“, schmunzelt er. Darunter finden sich Geschichten für kleine Kinder und auch für grosse Kinder. Ausschliesslich für grosse Kinder hat er sich Geschichten ausgedacht, die bereits im Titel den Inhalt erahnen lassen: „Ds beesch Mannji“, „Ds Schnaps-Toni“, „Dr Balduin“, „Ds Bärthi und dr Sigrischt“, „Ds Xufi“, „Die Zweiköpfige“, „Der blinde Papst“. Es finden sich in Miggis eigener Märchensammlung jedoch auch Geschichten, die sich für kleine und grosse Kinder gleichermassen eignen: „Das unheimliche Geisterschiff“ und „Minuxie“. Miggi hat mir dazu einen Zettel beigelegt. Darauf steht: „Du kannst sie deinem Kinde vorlesen. Ihr werdet euch beide daran erfreuen“.

Miggi – der Rätselhafte. Kürzlich hat mir Miggi wieder einmal einen Karton voller selbst verfasster Geschichten geschickt. Auf dem Karton klebte wieder ein Zettel. Was darauf stand, las ich mit Erstaunen. Wie rätselhaft muss denn ein Autor sein, bis er sowas schreibt: Und sollte dein Kind dich fragen: „Es hat doch noch andere Geschichten in diesem Buch! Willst du mir diese nicht auch vorlesen?“ Dann sag ihm nur: „Es lohnt sich nicht, mein Liebes, die sind langweilig!“ Verraten diese Zeilen psychologisches Kalkül oder ist es lediglich die Bescheidenheit des Autors, die ihn diese Zeilen schreiben liess? Miggis Notiz ist auf jeden Fall bestens geeignet, die Neugier der kleinen und grossen Leserschaft zu wecken.

Text und Foto: Kurt Schnidrig