BergBuchBrig: (M)eine Rosine

Am Multimediafestival BergBuchBrig ist Rosinenpicken angesagt, zu gross ist das Angebot.
(Fotos: Kurt Schnidrig)

Unter dem Motto „Klingende Berge“ lockt das Multimediafestival BergBuchBrig mit 55 Veranstaltungen jeweils anfangs November viel Volk ins Zeughaus Kultur in Brig. Meine Empfehlung: Rosinen herauspicken!

(M)eine Rosine. Ruhig und beschaulich geht es zu an diesem Donnerstagnachmittag. Doch der Eindruck beim Betreten des Zeughaus Kultur täuscht. Im grossen Vortragssaal sind die Plätze bereits fast ausverkauft. Für routinierte Leserinnen und Leser ist das keine Überraschung. Denn auf der Bühne installiert sich ein Autor, dem spätestens seit seinem Megaseller „Walliser Totentanz“ die Herzen nicht nur der Walliser Leserinnen und Leser zufliegen. Nur ganz vorn in der ersten Reihe ist noch ein Plätzchen frei, inmitten von Ryser-Verehrerinnen. „Bitte, schicken Sie mir ein Foto von ihm?“, säuselt mir meine Sitznachbarin zu, nachdem sie entdeckt hat, das ich mit beeindruckender Fotoausrüstung versuche, im abgedunkelten und nicht gerade fotogenen Raum ein paar brauchbare Fotos von Werner Ryser zu knipsen. Werner Ryser! Der gebürtige Winterthurer hat sich als Autor von historischen Romanen tatsächlich in die Herzen seiner Leserinnen und Leser geschrieben.

„Geh, wilder Knochenmann!“ So heisst der neue Roman von Werner Ryser. Der Titel beziehe sich auf ein Gedicht von Matthias Claudius, belehrt uns der Autor gleich zu Beginn, und er kann das Gedicht auswendig: „Vorüber! Ach, vorüber! / Geh, wilder Knochenmann! / Ich bin noch jung, geh, Lieber! / Und rühre mich nicht an!“ Der Roman spielt im idyllischen Emmental. Während des Lesens und Erzählens entführt mich Werner Ryser in die pittoresken Landschaften und zu den urchigen Bauernhöfen, die wie aus einem Sonntagsausflug aus Kindertagen wieder aus der Erinnerung auftauchen. Der Autor lädt dazu ein, eine Zeitreise zurück in die 1860er-Jahre anzutreten. Wir schliessen Bekanntschaft mit den Geschwistern Diepoldswiler, mit Simon, mit Esther und mit Jakob, die nach dem Tode ihres Vaters zu Waisenkindern wurden. Damals kam das einem tiefen sozialen Abstieg gleich. Simon wird verdingt und Esther muss als rechtlose Magd auf dem Hof weiterarbeiten. Autor Werner Ryser verschont keinen von uns im Publikum: Während er liest, erzählt und dramatisch über seine Brillengläser hinweg uns beschwörend fixiert, bekommen wir den ganzen Schrecken der damaligen Zeit zu spüren: das Verdingwesen, den Aberglauben, die Rücksichtslosigkeit der Grossbauern, brachiale Brutalität gegenüber jungen Frauen.

Während Werner Ryser liest, erzählt und dramatisch über seine Brillengläser hinweg uns beschwörend fixiert, bekommen wir den ganzen Schrecken der damaligen Zeit zu spüren.

Der Knochenmann verschont die wenigsten. Die vielen Zuhörerinnen im Publikum wischen sich schon bald ganz verschämt die eine oder andere Träne aus den feuchten Augen. Der Autor weckt geschickt Sympathien für seine Figuren. Wir trauern mit ihnen, wir empören uns mit ihnen, wir verzweifeln mit ihnen ob all der Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren. Die Geschichte hinterlässt Spuren auf den Gesichtern und in den Herzen des eingeschworenen Werner-Ryser-Publikums. Ja, es stimmt schon, die Geschichte ist so unbarmherzig hart wie es der Titel vermuten lässt. Beim Eingang zum Vortragssaal habe ich mir den „wilden Knochenmann“ erstanden, und nun blättere ich darin, während sich der Autor mal einen tiefen Schluck aus dem Wasserglas genehmigt. Und ich schlage ausgerechnet die Seite auf, auf der die Protagonistin Esther das Opfer einer „Engelmacherin“ wird und danach vom grässlichen Knochenmann gesichelt wird. Ich lese ein paar Sätze, während meine Sitznachbarin neugierig näher rückt, um auch einen Blick ins Buch erhaschen zu können.

Leseprobe, Kapitel 10: „Seit Jahr und Tag stand Lena kurz vor Sonnenaufgang auf, um in der Küche den Herd einzuheizen. An diesem Freitagmorgen beobachtete sie, wie die Krähen, die auf der alten Pappel genächtigt hatten, nicht wie üblich davonflogen, sondern laut krächzend über etwas Grossem, Dunklem flatterten, das auf dem Zufahrtsweg zur Hofstatt lag. (…) Sie wird doch nicht… Lena sprach den Satz nicht zu Ende. (…) Die Saatkrähen, die gehofft haben mochten, sich an der Leiche gütlich zu tun, flogen schimpfend auf ihre Pappel zurück und beobachteten das weitere Geschehen.“ (…) Später wird der Doktor sagen, „er stelle sich vor, das dumme Ding habe das Ungeborene abtreiben wollen. Zuerst habe sie es mit der grünen Fee probiert, einem Wermutsgesöff, das Krämpfe im Uterus und damit eine Frühgeburt auslösen könne. Offenbar habe das nicht funktioniert. Darauf habe jemand mit einer spitzen Nadel versucht, den Fötus zu töten, dabei das Ziel verfehlt und die Gebärmutter so schwer verletzt, dass die Blutung nicht mehr zu stillen gewesen sei. (…) Es sei eine Schande, dass der Gemeinderat Josiane, dieser Hure und Engelmacherin, nicht längst das Handwerk gelegt habe.“ (Seiten 87,88). Mit Erschaudern lege ich das Buch weg und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Autor Werner Ryser, der mittlerweile zum Schlussbouquet seines mitreissenden Vortrags übergeht. Zum Schluss keimt so etwas wie Hoffnung auf: Jakob und Simon wandern nach Russland aus, nach Georgien, wo sie ein neues Leben beginnen wollen.

Applaus! Werner Rysers Erzählung war berührend und verlangt nach mehr.

Fortsetzung folgt. „Geh, wilder Knochenmann!“ ist das erste Buch einer Trilogie. Fürs nächste Jahr kündigt Werner Ryser mit „Die gruisinische Braut“ eine Fortsetzung an, und wir alle können kaum erwarten, wie es denn den Emmentalern in Georgien ergeht, das früher auch Grusinien geheissen hatte. Werner Ryser schreibt aus der Perspektive der Schwachen und Ausgegrenzten. Er erzählt grossartig, detailverliebt und emotional berührend. Ein wunderbarer Roman. Eine „Rosine“, herausgepickt aus dem äusserst vielschichtigen und schmackhaften BBB-Kuchen.

Text und Fotos: Kurt Schnidrig