Marianne Künzles „Living Planet“

Heinz Noti las den Text „Living Planet“ der Autorin Marianne Künzle, die dafür mit dem 2. Oberwalliser Literaturpreis geehrt wurde.

Marianne Künzles Text „Living Planet“ schwang im Wettbewerb um den „Oberwalliser Literaturpreis“ obenaus. Die Bewerberinnen und Bewerber für diesen Preis durften maximal zehn Seiten Text einreichen, egal was. Ebenfalls waren seitens der Jury keine Bewertungskriterien bekannt gegeben worden. Die Kreativität und die Phantasie der Mitmachenden wurde damit einzig durch die Beschränkung auf einen sehr kurzen Text von maximal zehn Seiten begrenzt. Diese Begrenzung allerdings hat es in sich, denn der Reichtum und die Vielfalt der Erzählformen lässt sich fast ausschliesslich an längeren Erzählwerken, insbesondere am Roman, festmachen. Auch aus diesem Grund werden fast alle Literaturpreise für belletristische Werke in Buchform verliehen. Insbesondere die typischen Erzählsituationen im Roman bilden die Grundlage für eine differenzierte Typologie der Erzählweisen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rezensenten und Literaturkritiker zur Beurteilung von erzählerischen Werken zusätzlich auf Kriterien zurückgreifen, die auch ausserhalb der Literaturwissenschaft liegen, sie beziehen ihre Kriterien insbesondere auch aus der Textlinguistik und aus der literarischen Kommunikationstheorie. Diese Präliminarien mögen etwas Verständnis wecken für die oftmals sehr unterschiedlichen Einschätzungen eines Textes seitens der Rezensenten und Kritiker. Den kürzlich ausgestrahlten Literaturclub von SRF eröffnete meine Kollegin Nicola Steiner mit den Worten: „Wann ist ein Buch Literatur und woran macht man das fest?“ Eine schlüssige Antwort auf diese Frage hat der Vorzeige-Club nicht gefunden, so weit ich das beurteilen kann. Wie viel schwieriger muss es sein, eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wann ist ein zehnseitiger Text Literatur und woran macht man das fest?“ Damit nun zum Versuch einer Rezension des Textes „Living Planet“.

„Living Planet“ – Abstract. Schauplatz des Geschehens ist ein Flughafen. Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Mädchens, das zusammen mit seinen Eltern auf den Abflug wartet. Während des Wartens fasziniert eine Weltkugel das kleine Mädchen. Es ist dies eine Weltkugel, die im Rahmen einer Sammelaktion einer Umweltorganisation mitten auf dem Gate aufgestellt ist. Mitten im Stress und der Schnelllebigkeit des Aufbruchs bricht das Kind die Weltkugel beim Spielen in Teile. Die Weltkugel – eigentlich eine Sparbüchse – ist aber bereits gefüllt mit Münzen, die über den Boden kullern. Chaos bricht aus, die Mutter ist verzweifelt und wütend, das Kind verwirrt und verängstigt. Umstehende Passanten werden zu Entscheidungen gedrängt. Den Flieger besteigen Richtung Fuerteventura? Den Flugtermin verschieben? Mithelfen beim Beseitigen des Chaos? Münzen aufsammeln? Dem Mädchen ist das Aufsammeln und Reparieren wichtiger als die Flugreise. Doch plötzlich wirft das Kind die aufgesammelten Münzen in Richtung der Zuschauenden. Irritierte Zuschauer geraten in ein Wechselbad der Gefühle und Stimmungen, sogar Heiterkeit macht sich breit. Während die Lautsprecher-Stimme eindringlich zum Einsteigen auffordert, schichten Passanten die Münzen zu Türmen auf und erlauben sich kindlich-naive Spielchen. Das Mädchen verteilt Geld, tauscht gar sein Stofftier ein gegen Geld, ein „Zirkus“ geht vonstatten, die allermeisten Passagiere vergessen den Flug nach Fuerteventura. Als auch junge Männer ihr Sammelgut in die Weltkugel kippen, zückt einer von ihnen das Handy und fotografiert seinen Kollegen mit dem Stofftier des Mädchens im Arm. Der fühlt sich provoziert, stolpert, kracht in die Weltkugel, die erneut vom Sockel fällt und die aufgesammelten Münzen zum zweiten Mal verschüttet. Da beginnen die Kontinente auf der Weltkugel „in pochendem Gelb“ zu leuchten und plötzlich erstarren alle Menschen auf Gate 84, sämtliche Regungen frieren ein, das Flugzeug startet ohne die Passagiere und das Mädchen bleibt zurück, „sein Blick war dunkel und matt“.

„Living Planet“ – eine Kurzgeschichte. Wie gesagt, eine stimmige Erzähltheorie existiert vor allem für den Roman. Die deutsche Kurzgeschichte ist vor allem das Produkt der Kahlschlag- oder Trümmerliteratur nach 1945. Die Schriftsteller definierten damals ihr Schreiben neu, dazu gehörten die Methoden der Bestandesaufnahme und die Methode der Wahrheit. Es gibt keine einheitlichen Merkmale, die auf alle Werke zutreffen, die als „Kurzgeschichte“ bezeichnet werden. „Living Planet“ allerdings erfüllt mehrheitlich Merkmale, die vor allem der Kurzgeschichte der Jahre 1945-1955 zugerechnet werden. Solche sogenannt übergreifende ästhetische Qualitäten könnten sein: die im Text verarbeiteten Themen, die einsträngige Handlung, die einfach umrissene Situation, der Stimmungswechsel, die typisierte Hauptperson, die Reflektorfigur, die Mehrdeutigkeit und, vor allem, die Techniken der Verdichtung. Erst seit den amerikanischen „short storys“ sind Kurzgeschichten zu einem Thema der Literaturtheorie avanciert, eine Analyse erweist sich deshalb als schwierig, weil alle diese Kriterien nur bedingt anwendbar sind.

Probleme der Zeit. „Living Planet“ kreist um aktuelle Themen. Dabei behandelt die Autorin „ein Stück herausgerissenes Leben“ (Schnurre 1961). Es ist dies die Geschichte eines kleinen Mädchens mit Stofftier inmitten von Stress und Schnelllebigkeit auf einem Flughafen. Es ist dies auch eine „einfach umrissene Situation“. Dabei ist das Umweltanliegen zwar vordergründig, symbolisiert auch durch die Weltkugel, die im Rahmen einer Sammelaktion einer Umweltorganisation mitten auf dem Gate steht. Die Weltkugel ist handlungsbestimmend, dies auch dadurch, dass die Protagonistin, das kleine Mädchen, sie als seinen Spielball annimmt, welcher die Geschicke der Menschen auf dem Gate während Minuten bestimmt und in eine ungeahnte Richtung lenkt. Es liessen sich jedoch auch Subthemen ausmachen, Handlungssequenzen, welche eine Mehrdeutigkeit des Geschehens nahelegen. Dazu könnten gehören: Der „Homo ludens“, der Mensch, der seinem Spieltrieb frönt, kaum dass sich ihm eine Gelegenheit dazu bietet; das kindlich-naive Verhalten im Gegensatz zum geordneten Leben; das Kind als frühreifer Erwachsener, das sich zum Weltverbesserer und Visionär einer besseren (heilen) Welt emporstilisiert; das labile Kommunikationsverhalten unserer heutigen Gesellschaft, die einem Masseninstinkt (Aufsammeln von Materiellem) folgt, anstatt einem vorgegebenem Ziel zu folgen (Abflug) und mahnenden Stimmen keinerlei Beachtung schenkt; die Probleme vieler heutiger (hyperaktiver) Kinder, die, allein gelassen, mit ihrer Widersprüchlichkeit unsere hilflose Gesellschaft verunsichern, ja sogar zur Handlungsunfähigkeit verurteilen, was im „Einfrieren“ aller menschlicher Regungen mündet. Das geschilderte Alltagsereignis verweist somit auf komplexere Probleme, die oft über Metaphern und Leitmotive zu erschliessen sind.

Peripetie. In „Living Planet“ sorgen überraschende Stimmungswechsel der Figuren für eine verwirrende Rezeption seitens des Lesers. Bei Kurzgeschichten lässt sich dafür der Begriff „Glückswechsel“ (Peripetie) finden. Er bringt die Fragilität und Fremdbestimmtheit der Figuren zum Ausdruck. Plötzlich ergreift die Figuren eine ansteckende „merkwürdig aufgekratzte Stimmung“, die alle sonstigen Vorhaben, insbesondere den Flug nach Fuerteventura, unwichtig und nebensächlich werden lässt. Typisch für die Kurzgeschichte ist diese konfliktreiche, häufig nur skizzenhaft dargestellte, dabei von Emotionen geprägte Situation.

Eine Reflektorfigur. Das Mädchen – typisiert und ohne Namen – initiiert in „Living Planet“ die verschiedenen Handlungsstränge und gibt eigentlich erst ganz zum Schluss als Protagonistin die Initiative aus der Hand, als ein unsichtbarer Dirigent das Geschehen stoppt und die Menschen in ihrem Getue „einfrieren“ lässt. Erst ab jetzt erweist sich auch die Protagonistin als ein unglückliches Opfer. „Der Blick des Mädchens war dunkel und matt. Erloschen.“ Das Dargestellte wird von der Reflektorin nur im Augenblick des Geschehens registriert, es ist daher für sie meist unüberschaubar, sein Sinn oft problematisch. Der Blick des Mädchens ist deshalb „dunkel und alt, ein Funken Menschheitsgeschichte lag in ihm, vom Kind, vom Menschen, dem nichts wichtiger ist, als dass er verstanden wird und er sich auf andere verlassen kann.“

Komprimierung und Reduktion. Im Text „Living Planet“ arbeitet die Autorin mit Techniken der Verdichtung wie Aussparungen, Andeutungen, Metaphern und Symbolen. Dadurch verschlüsselt sie die Aussage des Textes. Vieles muss vom Leser zwischen den Zeilen und Verknüpfen von Handlungen erschlossen werden. Wir sprechen in der Literaturtheorie vom „Eisbergmodell“. Sichtbar und lesbar ist nur ein oberflächliches Geschehen, der Rest ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Die Autorin bedient sich eines auktorial-allwissenden Erzählers, der, wie bei der „Camera Eye“-Technik, beliebig Perspektivenwechsel vornehmen kann und sogar auch aus der Sicht des unbeseelten Stofftiers emotionale Signale senden kann („…das tat auch der Tiger, er wackelte mit dem Kopf“).

Die erzählte Zeit. Die Geschichte „Living Planet“ beginnt mit einem sofortigen Einstieg in die Handlung (in medias res): „Noch war Gate 84 unbesetzt.“ Die Exposition im Wartebereich des Flughafens schafft Bekanntschaft mit Figuren, die nur teils später in der Geschichte eine Rolle spielen werden. Das Geschehen wird erst nach der Hälfte des Erzählten in Gang gesetzt, dann nämlich, als dem Mädchen das Stofftier herunterfällt und es damit die Erdkugel zum Bersten bringt. Die Exposition gestaltet sich damit recht (zu?) ausführlich. Das chronologische Erzählen im Präteritum beschränkt sich auf eine einsträngige Handlung. Die Autorin verzichtet damit auf die Kombination verschiedener Handlungsabläufe durch Einblendungen und durch simultane Behandlung. So beträgt die erzählte Zeit bloss wenige Minuten. Die Autorin reduziert das Geschehen auf eine exemplarische Situation, ein Bild, eine Momentaufnahme. Ein offener Schluss ersetzt eine Pointe. Dafür lässt die Autorin zum Schluss einen unsichtbaren Dirigenten auftreten, der das Geschehen und mit ihm die Figuren „erstarren“ lässt. Die Intention mag sein, den Leser mit diesem erzählerischen Kunstmittel fast ein wenig in Brechtschem Sinn zum Nachdenken zu bringen. Dieses Innehalten des Geschehens – auch als „TOK“ aus dramatischen Tanz- und Theateraufführungen bekannt – lässt jedoch die Story abgleiten ins Unwahrscheinlich-Zauberhafte, was den der Geschichte ursprünglich zugrunde gelegten realistischen Erzählintentionen aber zuwiderläuft.

Allgemeine Einschätzung. Der Autorin ist es in „Living Planet“ gelungen, eindringlich und mehrdeutig aktuelle Themen mittels einer Kurzgeschichte in Alltagssprache lebendig zu vermitteln. Ob das Abgleiten ins Unwahrscheinlich-Zauberhafte den zugrunde gelegten Erzählintentionen zuwiderläuft, das sei der je eigenen Interpretation der Leserinnen und Leser überlassen. Dem Stress der Komprimierung und der Reduktion ist geschuldet, dass poetische Momente – ansonsten wesentliche Merkmale längerer Erzählwerke – abgepresst werden wie kleine Fluchten. Erzählerisch überzeugt die Autorin dadurch, dass es ihr gelingt, aus einer besonderen Position heraus, Unsagbares zu vermitteln.

Text und Foto: Kurt Schnidrig