Pisa-Studie: Schwach im Lesen

Top in Mathematik, überdurchschnittlich in Naturwissenschaften, aber schwach im Lesen. Dies die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie.
(Symbolbild: Kurt Schnidrig)

Die Ergebnisse der Schweizer Jugendlichen in der Pisa-Studie 2018 fördern Überraschendes zu Tage. Junge Menschen von heute vertrauen auf nackte Zahlen und auf Statistiken. Rund 6000 Jugendliche mit Jahrgang 2002 nahmen an der Pisa-Studie teil. Im Bereich der Mathematik lag die Schweizer Jugend mit 515 Punkten um 26 Punkte über dem OECD-Durchschnitt. Das entspricht Rang elf von insgesamt 79 teilnehmenden Ländern. Auch in den Naturwissenschaften lagen unsere Boys und Girls knapp über dem Durchschnitt und erreichten Rang 23. Beim Lesen hingegen droht das Absinken ins Niemandsland. Rang 28 für die Lesekompetenz unserer Jungen ist einfach nur schlecht, denn schliesslich leben wir in einem hochzivilisierten Land mit hohem Ausbildungsstandard und mit einem breiten und interessanten Leseangebot. (Quelle: Teletext SRF).

Wie aussagekräftig ist die Pisa-Studie? Der Pisa-Test gilt als der derzeit grösste internationale Schulleistungsvergleich. Pisa steht für „Programme for International Student Assessment“ (Programm für internationale Schülerbewertung). Federführend ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Zu diesem Verbund gehören 36 Industrieländer und andere höher entwickelte Länder. Getestet werden per Stichprobe ausgewählte 15-jährige Schülerinnen und Schüler in 79 Ländern.

Veränderte Lesegewohnheiten. Über die Gründe, die zur Verschlechterung der Lesekompetenz der Schweizer Jugend geführt haben, kann man nur rätseln. Insbesondere könnte das Aufkommen von Online-Publikationen und die Hinwendung zu kurzen Texten eine wichtige Rolle spielen. Dadurch fehlt die Zeit zum Bücherlesen, das massgeblich zu einer erweiterten und vertieften Lesekompetenz beiträgt. Dies bezeugen die neusten Zahlen der Eidgenössischen Zollverwaltung: Bücher werden nur noch zu ganz wenigen Anlässen importiert, beispielsweise zum Schulbeginn oder wenn Festtage vor der Tür stehen.

Ein falscher Weg? Mathematik und Naturwissenschaften vermitteln Zahlen und Statistiken. Wohl vor allem auf den massiven Druck der Wirtschaft hin werden diese nüchternen Disziplinen in neuerer Zeit in den Schulen massiv gefördert und mit einer teuren Informatik-Infrastruktur unterstützt. Bereits die Kleinen im Kindergarten (jetzt zur Kinderschule H1 umstrukturiert) werden mit IT-Geräten traktiert. Die gestohlene Kindheit und den unterdrückten Spieltrieb müssen dann viele sehr viel später als Erwachsene in teuren Kommunikations- und Selbstfindungs-Seminarien nachholen und ausleben. Die ist meines Erachtens ein falscher Weg. Warum?

Menschen ticken nicht mathematisch. Mit Statistiken und mit Zahlen lassen sich Menschen nicht bewegen, aufrütteln und motivieren. Auf Statistiken reagieren wir kalt. In seinem Buch „Die Kunst des klugen Handelns“ berichtet Rolf Dobelli von einem Experiment, das der Psychologe Paul Slovic durchgeführt hat. Er bat Menschen um Spenden. Einer Gruppe zeigte Slovic das Foto von Rokia aus Moldawien, einem abgemagerten Kind mit flehenden Augen. Im Durchschnitt spendeten fast alle Leute mehrere Dollar für die Hilfsorganisation. Einer zweiten Gruppe zeigte Slovic Statistiken über den Hunger in Malawi – mehr als drei Millionen unterernährte Kinder. Die Spendenbereitschaft lag um 50% niedriger. Die Schlussfolgerung muss lauten: Statistiken lassen uns kalt, Menschen nicht (Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns, S. 159).

Das Lesen eines Romans ist der Mathematik weit überlegen. In Sibylle Bergs Roman „GRM Brainfuck“ ersetzen Algorithmen die Menschen.
(Foto: Kurt Schnidrig)

Der Roman – eine der wichtigsten kulturellen Erfindungen. Die Fixierung auf den Menschen erklärt den Erfolg des Romans als eine der grössten kulturellen Errungenschaften. Der Roman macht zwischen- und innermenschliche Konflikte an wenigen Einzelschicksalen fest. Was bringen beispielsweise Zahlen und Statistiken über die digitale Überwachung des modernen Menschen? Mit Balkendiagrammen und mit dem Auflisten von Algorithmen lassen sich keine Leser gewinnen. Dagegen berührt Sibylle Bergs Roman „GRM Brainfuck“ die Menschen. Sybille Bergs Roman rüttelt die Menschen auf, denn in dieser Geschichte ist die Überwachungsdiktatur fast perfekt. Algorithmen ersetzen Menschen, Menschen ersetzen einander, es gibt kaum noch Platz für Träume, ausser in der Musik. Die Schlussfolgerung muss auch hier lauten: Wer Menschen bewegen, aufrütteln und motivieren möchte, der muss dafür sorgen, „dass es ordentlich menschelt“ (Dobelli, S. 159). Dies schafft vor allem die Literatur, das Lesen, und insbesondere der Roman.

Dem Lesen von Romanen müsste deshalb in unseren Schulen eine viel wichtigere Bedeutung zukommen als der Vermittlung von Mathematik und von Naturwissenschaften. Die in der Pisa-Studie festgestellte schlechte Lesekompetenz der Schweizer Jugend verspricht in diesem Sinne nichts Gutes für das Zusammenleben der Menschen in naher und ferner Zukunft. Mathematik und Naturwissenschaften, also die Zahlen, Statistiken und Figuren, gehören zu jenem „verkehrten Wesen“, das bereits Dichter wie Novalis in der Frühromantik angeprangert haben:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen / Wenn die, so singen oder küssen, / Mehr als die Tiefgelehrten wissen, / Wenn sich die Welt ins freye Leben / Und in die Welt wird zurück begeben, / Wenn dann sich wieder Licht und Schatten / Zu echter Klarheit werden gatten, / Und man in Märchen und Gedichten / Erkennt die wahren Weltgeschichten, / Dann fliegt vor Einem geheimen Wort / Das ganze verkehrte Wesen fort. (Gedicht von Novalis aus dem Jahr 1800).

Text und Fotos: Kurt Schnidrig