„Platzspitzbaby“: Das ging unter die Haut!

Eine Filmpremiere im Briger Kino Capitol: „Platzspitzbaby“ geht auf das gleichnamige Buch von Michelle Halbheer zurück. (Foto: Kurt Schnidrig)

Vor vollbesetzten Rängen feierte am Mittwochabend der Film „Platzspitzbaby“ im Briger Kino Capitol Premiere. Von der Filmkritik hoch gelobt, durfte man gespannt sein, ob das Kinodrama rund um die offene Schweizer Drogenszene auch halten würde, was versprochen wurde. „Platzspitzbaby“ befasst sich mit der Drogenszene, die nach der Schliessung des Zürcher Drogenplatzes „Platzspitz“ überall in der Schweiz entstand. Gleich vorweg: Der Film ist vielen Kinobesuchern mächtig eingefahren, dies vor allem aufgrund der schonungslosen und teils hoch emotionalen Szenen.

Ein Mutter-Tochter-Drama. Der Film fokussiert auf eine drogensüchtige Mutter, im Film heisst sie Sandrine, und auf ihr 11-jähriges Mädchen mit dem Namen Mia. Die Tochter Mia kämpft um die Liebe ihrer Mutter, immer wieder wartet sie im Auto, bis Mama Sandrine, vollgepumpt mit Drogen, zurückkommt. Täglich sucht Mia unter den abgewrackten Junkies nach ihrer Mutter. Gerne möchte das Kind seine Mutter aus dem Drogensumpf befreien, doch immer wieder scheitert Mia an der unbezwingbaren Sucht ihrer Mutter. Schliesslich geht das Kind für seine Mutter grösste Risiken ein, um sie mit Drogen versorgen zu können. So beginnt der Film, situiert inmitten des Zürcher Platzspitz-Dramas.

Schockierende offene Drogenszene. Nach der Schliessung des grössten europäischen Drogenumschlag-Platzes, dem Zürcher Platzspitz, verlagert sich die Drogenszene aufs Land und in die Dörfer. Mias Eltern trennen sich. Mia zieht mit ihrer Mutter Sandrine in ein kleines Dorf im Zürcher Oberland. Doch auch hier gibt es für Mutter Sandrine kaum je abstinente Tage. Sie fällt erneut der einheimischen Drogenszene zum Opfer. Im Film ist diese Zeit charakterisiert durch schockierende Szenen, die dem Betrachter arg unter die Haut gehen.

Brutal und unmenschlich. Mit oftmals nur ganz wenigen Bildern schafft es Regisseur Pierre Monnard, die Brutalität und die Unmenschlichkeit des Drogenmilieus offenzulegen: Da sticht ein kleines Mädchen seiner Spielzeug-Puppe die Augen aus, damit die Puppe die schrecklichen Junkie-Bilder zu Hause nicht mehr „ansehen“ muss. Und es treibt dem Zuschauer die Tränen in die Augen, wenn die Mutter auf offener Strasse ihrer Tochter den heiss geliebten kleinen Hund entreisst, um ihn in einem schmuddeligen Drogenladen zu Geld zu machen. Und all dies bloss, um sich ein kleines Briefchen von diesem weissen Scheiss-Pulver kaufen zu können! Sowas fährt dem Kinobesucher schon mächtig ein. Als Zuschauer überkommt einen selber eine todtraurige Stimmung, dann etwa, wenn sich Mia wegträumt auf eine friedliche Insel, auf die Malediven oder anderswo. In Mias Traumwelt erhält sie auch regelmässig Besuch von einem imaginären Freund, der ihr aber letztlich auch nicht zu Hilfe eilen kann. Mit solchen Szenen verfügt der Film über eine starke Ausdruckskraft, stärker noch als das Buch.

„Platzspitzbaby“ – eine Literaturverfilmung. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Michelle Halbheer, das 2013 im Verlag wörterseh erschienen ist. Das Buch gibt bestimmt mehr her, was den psychologischen Hintergrund angeht. Auch zum Verständnis der komplexen Drogenszene trägt das Buch mehr bei. Im Buch erzählt Michelle Halbheer ihre eigene Geschichte als Platzspitzbaby autobiographisch und als Ich-Erzählerin. Was mir persönlich am Buch besonders wichtig erscheint ist die Tatsache, dass hier aus mehreren Perspektiven erzählt wird. Da kommt zum Beispiel auch mal Mias Lehrer zu Wort, auch er als authentischer Ich-Erzähler. Er schildet Mias Geschichte aus der Sicht des Pädagogen. Er erzählt beispielsweise, wie das Drogen-Kind besonders im Schultheater sich immer wieder hat neu motivieren können für ein Leben an der Seite einer drogenabhängigen Mutter. Diese literarische Technik erlaubt es dem Leser, auch Mias Kindheitsgeschichte mit einzubeziehen. Dadurch wird es den Leserinnen und Lesern ermöglicht, Mias Entwicklung zu einem verhaltensauffälligen Kind nachvollziehen zu können. Im Buch schaltet sich auch Mias Freundin ein, sie tut dies ebenfalls als Ich-Erzählerin. Demgegenüber fokussiert der Film fast ausschliesslich auf die problematische Mutter-Tochter-Beziehung.

Happige Kritik an der Gesellschaft. Was Film und Buch gleichermassen thematisieren: Auch heute noch sprechen progressive Fachleute davon, dass Kinder für ihre Junkie-Eltern eine grosse Chance seien. Kinder könnten die Therapiewilligkeit von Heroin-Konsumenten markant steigern. Diese Ansicht ist jedoch falsch und zudem auch lebensgefährlich für die Kinder. Derartige Theorien haben vielen Kindern wie Mia im Film oder wie Michelle im Buch fast das Leben gekostet.

Text und Foto: Kurt Schnidrig